Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
anzukündigen, ich hätte den Lehrstuhl für die Frankfurter Poetikvorlesungen – derlei Einsätze (nebst allerhand Enttäuschungen). Und zuletzt im Intercontinental Hotel, wo er mir ultimativ das Manuskript Hund abverlangt und es zu verabredeter Stunde entgegengenommen hatte und fragte, was für eine Werksausgabe ich wünschte, ich hätte alles haben können. Und noch selbige Nacht rief er an und gratulierte zum Hund (er hatte ihn im Flugzeug gelesen).
Ich saß tief verunsichert vor dem Fernseher vergangene Nacht, um die Todesnachricht zu verdauen oder in mich absickern zu lassen, und fühlte Entsetzen und Furcht, wie wenn der Vater gestorben wäre, Furcht wie Lebensangst.
Heute morgen riefen Gstrein und Maria Gazzetti und Peter Henning und Martin Dean an. Er war doch im Zeichen der Waage geboren, muß diesen Monat seinen letzten Geburtstag gehabt haben. 78 Jahre.
13. November 2002, Paris
Brigittes Geburtstag. Bin vergangenes Wochenende in der S-Bahn vom Münchener Flughafen nach Tutzing (zum Treffen der ehemaligen Preisträger des Kaschnitz-Preises in der Evangelischen Akademie und zur Preisverleihung an Robert Menasse) an der Station Laim vorbeigekommen, wo wir beide 1952 im Pfarrhaus der Hofmanns, Brigittes Onkel und Tante, wohnten – ich offiziell bei Metzger Klass; es waren unsere blutjungen Anfänge, es war unsere Hochzeit, es war Studentenleben kurz nach Kriegsende und dem Jahre Null. Und dieses Wochenende feiern wir Brigittes Siebzigsten in Valéries Haus in Baden, übermorgen fahre ich hin.
Ich bin arbeitsmäßig in einem Engpass. Komme mit dem Klee (Auftrag von Professor Maurice Müller, berühmter Hüftgelenkchirurg) nicht recht vom Fleck und kann nicht zurücktreten, da das Buch bevorschußt ist. Ich trete auf der Stelle, und dies schon bald zwei Jahre. Habe das Fell der Forelle auf Eis legen müssen. Das Jahresende ein Schreckgespenst. Da ist noch das Projekt zusammen mit Colette für Pauvert, ein vierhändiges Rombuch, um den wunden Punkt von Salve Maria kreisend, ebenfalls bevorschußt, Abgabetermin überschritten. Da ist ein Text über Robert Schumann fällig, für eine Plattenedition, Kassette von Actes Sud. Da ist ein Text über Hans Josephsohn für eine Publikation des Aargauer Kunsthauses mit Arbeitstitel »Das wilde Sehen«, wo an die 70 internationale Schriftsteller über ein einzelnes Werk der museumseigenen Sammlung von Schweizer Kunst, der angeblich größten im Lande, einen freien Text zu verfassen eingeladen sind. Abgabetermin 1. Dezember. Ich bin von all diesen Arbeitsvorhaben wie in Stücke gerissen oder wie mit Stricken gefesselt; in eine Immobilität gerammt. Ist die Immobilität Angststarre? Die Angststarre hat auch mit dem Alter oder mit Todesfurcht zu tun. Zwar laufe ich wie eh und je erregt und unternehmungslustig quer durch Paris unterwegs zum Atelier und abends zurück, zwar fahre und fliege ich zu Lesungen und derlei Anlässen auf Reisen und nicht selten hochgestimmt; doch dann sagt mir mein Verstand mein Alter, nennt mir die gestundete Zeit, und ich mit meinem Trödeln und leichtsinnigen Zeitverlieren angesichts des Alters, der gestundeten Zeit, was Wunder, daß mich Panik überfällt. Kommt hinzu, daß das angelaufene Scheidungsverfahren mich mit Einsamkeitsängsten und Hilflosigkeitsdrohungen anficht, die ich spazierender-, das heißt weglaufenderweise überspiele, ich laufe de facto ja in eine Sackgasse. Aus der mich nur die Arbeit hinausführen könnte, wenn sie mich nicht dermaßen mit unüberwindlichen Mauern der Mutlosigkeit umstellte. Nicht aus noch ein wissen.
29. Dezember 2002, Paris
Es ist Sonntag, und morgen fahre ich mit Igor in die Schweiz. Habe eben einige Seiten am Fell der Forelle weitergemacht, wie übrigens auch gestern, gestern habe ich die Arbeit endlich wieder richtig aufgenommen und möglicherweise die Kurve gekriegt, und zwar in eine Art Wahnsinn (des Protagonisten) hinein.
Es gibt einige neue Gesichtspunkte: 1. daß der Erzähler oder Vermelder sich für einen Mörder hält; 2. daß er sich innerlich daran klammert, aus dem Geschlecht der Stolp und nicht der Neffe der Tante zu sein (Spaltung oder Flucht in die Erfindung). Erfindung als Erlösung; 3. läuft das Ganze darauf hinaus, daß er am Ende die umgebrachte Geliebte wiederfindet und sich für immer mit ihr vereinigt. Und wäre es auch nur in seinem Wahn. Daß es auf ein (wahnsinniges) Happy-End hinausläuft. Sie steht an der Tür. Es ist die Vereinigung. Ich habe so lange auf
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