Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
einen Schlagerhelden erworben, für sie ist es ein Verlagssieg, der Hit ein Sieg, dachte ich, gut so. Und wandte mich ab.
2004
27. Januar 2004, Paris
Der Traum von dem Tier auf dem Schinderkarren unterwegs zum Schlachthaus und mit dem Kälbchen illustriert, wie mir jetzt aufgeht, meine Angst und Anfechtung geradezu messerscharf. Er sagt, ich sei am Ende, und das bißchen Leben oder Lebenshoffnung könne aus meinem Kadaver nur noch Blut und Kot, bestimmt keine Nahrung saugen. Welch ein Verdikt. Ich denke, mein gegenwärtiger Zustand ist nicht nur mit Krise, sondern mit Panik zu bezeichnen. Ein wahrhaft schrecklicher Jahresbeginn.
28. Januar 2004, Paris
Ich finde es immer so verblüffend und komisch, wenn ich, etwa vom Zug aus und meistens gegen Abend, einen einzelnen Vogel so verdammt zielstrebig und geradlinig und beinah stur irgendwohin fliegen sehe, der Kurs wie mit einem Lineal gezogen, als hätte er noch schnell einen Brief zuzustellen, er allein am Himmel, und wo solls denn hingehen und warum so eilig, eine Verabredung, ein Auftrag, und dennoch ist weit und breit nichts zu sehen, was ihm ein Ziel bedeuten könnte. Würde man ihn anreden, er quäkte: Keine Zeit, muß mich beeilen, habs versprochen.
16. Februar 2004, Paris
Es ist ja nicht seine Überflüssigkeit, es ist seine totale Antriebslosigkeit. Ist Antriebslosigkeit das Fehlen von Interesse? Wofür interessiert sich der Mensch? Fürs Überleben? Für einen Beruf, eine Tätigkeit? Für eine andere Person? Für vitale Bedürfnisse, den Sport? Fürs Kino fürs Reisen für eine Arbeit fürs Geldverdienen für Frauen den Sex für Bücher fürs Lesen Studium für Politik für die Natur für sein Ego für die Gesellschaft für Reichtum und Luxus für die Zukunft? Für die Karriere?
Die Tante könnte ihm die Frage stellen, warum er nichts tut. So etwas ist doch nicht normal. Ein Mensch muß eine Arbeit haben, du hast doch studiert, du hattest doch einen Beruf. Ich will dich nicht zur Rede stellen, doch wüßte ich gerne, was du hier suchst. Versteckst du dich? Das Nichtstun wird dich krank machen, mein Kleiner.
Frank wird immer mehr eingekreist, er wird durch Fragen, wenn nicht Verdächtigungen seitens Carmens und Jeannines und der Tante gewissermaßen gestellt, im Grunde wird er durch seine eigene Hasenherzigkeit und durch sein Davonlaufen und durch seine Ausflüchte, wenn nicht gemartert, so doch gequält und in untergründige Ängste versetzt.
Sollte Carmen nach dem Besuch in der Wohnung und der Feststellung der Verwahrlosung bei ihm saubermachen? Etwa den Herd und die Küche putzen? Die Berührungsfurcht.
Sollte sie bei ihm vorbeikommen oder irgendwelche Fressalien mitbringen, um eine Mahlzeit oder auch nur ein Frühstück zu bereiten und zu diesem Zweck ein bißchen saubermachen?
Ein Einbruch.
Was zum Teufel ist mit ihm los? Was hat ihn umgeworfen? Wäre er ein Fall im Vorstadium der Clochardisierung? Oder müßte er eingeliefert werden?
An dieser Stelle oder in solcher Perspektive fällt mir die Ähnlichkeit mit Un homme qui dort von Perec auf. Es gibt eine Verwandtschaft, doch möchte ich den Text nicht in diese Richtung laufen lassen. Was bei diesem Frank auffällt, ist so etwas wie Wirklichkeitsverlust. Er hinterfragt sich nicht (wirklich), fragt sich nicht, was mit ihm los sei oder insbesondere, was für ein Grund für das Zerwürfnis mit seiner Frau und den Mord vorlag. Sie ist weg und hat nicht nur ihre Sachen, sondern ganze Teile seiner inneren Person mitgenommen, sein Herz? Seitdem ist diese Leere oder diese merkwürdige Benommenheit da, dieser innere Nebel, den er nicht lichten kann. Und eben auch diese merkwürdige Schmerzunempfindlichkeit. Oder wäre es ein Fall von Entrückung? Ver-rückung? Das wäre viel besser.
Er marschiert einfach drauflos
24. Mai 2004, Paris
Übermorgen kommt Freund Jungk, Tonbandaufnahme der inzwischen entstandenen Seiten vom Fell der Forelle . Viel ist es nicht, doch scheint der Fortgang schlüssig. Für mich ist es überraschend, was da aus mir hervorkommt, völlig unerwartet unübersehbar unvorhersehbar verrückt. Ich kann es nicht sagen, ich komme nicht vom Fleck, weil das Buch immer neue Wendungen nimmt und wirklich fortschreitet und auf ein ahnbares Ende zuläuft, doch brauche ich nach jedem Stück schrecklich viel Zeit, bis der Prozeß wieder anläuft. Es gibt natürlich auch die Unterbrüche durch berufsbedingte Verpflichtungen oder Reisen. Fast jeden
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