Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Dichterfürsten Revue passieren zu lassen. Es geht ja in dem Hause nicht nur um ein Schreibleben, wenn der Schreibtisch im Obergeschoß mit der »Umzäunung« der Tischfläche (um das Herunterfallen der beschriebenen Blätter zu verhindern) auch eindrücklich und der kurzbeinige Stuhl, um des Dichters brillenlose Augen dem Papier näher zu bringen, auch interessant und die Vitrinen mit den selbstgefertigten Stiefeln überraschend zu nennen sind: Es geht um das Familienleben in diesem Hause, Holzhaus: um den großen mit englischem Geschirr gedeckten Eßtisch für das um 18 h abgehaltene Abendessen, wo Eltern und alle Kinder versammelt waren. Um die verschiedenen Kinderzimmer, die eine Tochter Kunstmalerin, um die Salons, wo abends nach dem Essen und der getanen Arbeit (Tolstoi war Frühaufsteher) die Besuche empfangen wurden, Dichter und Künstler und Musiker – die Musik für T. die höchste der Künste –, Freunde und Bekannte; es ging um den hinter einem Paravant versteckten Schlafraum mit den zwei Betten und den Waschschüsseln für das Elternpaar, es ging um Gesinde- und Gouvernantenräume, alles was zur Abhaltung des um den großen Mann gescharten kinderreichen Familien- oder besser Sippenlebens gehörte; um das Private wie um das Öffentliche, Tolstoi war ja mit zunehmendem Alter eine öffentliche Person und vor allem: Instanz.
Von Moskau habe ich natürlich auch nur flüchtige Eindrücke, immerhin ist das zu einem Festungsring gehörende Neujungfrauenkloster mit den dickwandigen Mauern und den unendlichen Ikonen im Inneren der verschiedenen Kirchen ein noch abrufbarer Eindruck; ebenso wie ich mich an die Lesungen und die Gaststätten zu erinnern vermag, ich meine an den jeweiligen Rahmen, vor allem im Puschkin-Café, einem stilvollen mehrstöckigen, vor nobler Förmlichkeit prangenden Lokal erster Güte und Schönheit, während es in der Staatlichen Bibliothek für ausländische Literatur, wo sich die verschiedenen Ansprachen ablösten und mit offenbar landesüblichem Applaus ebenso ununterbrochen quittiert wurden, eher langweilig zuging und der Rahmen des Saals vom Boden bis zur Decke mit beschlagnahmter deutscher Literatur tapeziert war. Bei dem anschließenden Empfang näherte sich mir die einzige auffallend hübsche junge Frau, eine Studentin und Nizon-Leserin, was mir überaus gefiel.
Ich darf den Mittagstisch zu meinen Ehren in der schweizerischen Botschaft nicht vergessen, der Botschafter, Erwin H. Hofer, gestaltete das Ganze amüsant und aufmerksam, ich war gerührt, natürlich auch beim Gedanken, daß Höhlu oder Fredli, mein ältester Freund aus Schulzeiten, hier gewirkt und gewohnt und meine Tochter Valérie zu Gast gehabt hatte.
Das Jahr endet, wie mir scheinen will, imposant. Der Aufenthalt im Yourcenar-Gebiet nahe der belgischen Grenze, das Versinken in vorwinterlich flandrischer Erde, bildlich gesprochen, mit Abstechern nach Lille und Dünkirchen und Brügge … und zum Finale Rußland. Und morgen nach Zürich zu Radiointerviews, zum 75. Geburtstag. Ja, altersmäßig kam ich mir in Rußland schon ein wenig angeschlagen vor, ich meine, ich dachte bei all dem Schnee, Eis und Matsch, es sei Vorsicht geboten. Schön war auch das Wiedersehen mit Egon Ammann, der als Kurator der S. Fischer Stiftung mit von der Partie war. Er ist ein überaus charmanter und amüsanter, merkwürdig levantinisch (wie er selber sagt) wirkender älterer Herr geworden, fast ein Mann von Welt und dann wieder ein bernischer Spaßvogel mit Hans Schweingruberschen Derbheiten, Allüren.
17. Dezember 2004, Paris
Zurück aus Bern und Zürich, wohin ich zu einem Radiointerview DRS 2 mit Hardy Ruoss bestellt war. Anderntags zu Elisabums nach Unterlunkhofen, wo ich auch über Nacht blieb. Und davon will ich reden.
Das Haus, vor allem natürlich der ganze weiß gekachelte moderne Komplex oder Anbau mit den vielen modernen Bildern an den Wänden, dem leicht absurden Bad mit der in den Boden vertieften Badewanne (vage altrömisch), dem ausführlichen Wohnraum oder Wohngebiet, das sich in runden Bogen in den hinteren Schlafteil schwingt (weshalb mir dieser von Elisabeth entworfene Trakt immer leicht anthroposophisch vorkam), kurzum: die Wohnung blitzend vor Sauberkeit und Aufgeräumtheit, vielleicht wäre besser: Unberührtheit. Es kommen ja anscheinend nicht nur Frauen oder Hilfspersonal zum Saubermachen, sondern auch zur leiblichen Versorgung und Hygiene, Spitex. Der Eindruck der Leere oder Unangerührtheit hängt mit
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