Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Erst als ich diese ethischen moralischen »religiösen« Selbstanforderungen abzulegen imstande war, konnte ich schreiben. Schon bei den Briefen oder Notätchen des Gymnasiasten fiel mir auf, daß in mir moralische Gebote, von heute aus gesehen wahre Fremdkörper (Künstlichkeiten) wie Polizeimaßnahmen oder eben Glaubensartikel, nun, unbezweifelbare Spielregeln, wirksam waren, ich frage mich, ob das von der Familie her stammte. Erst als das abfiel und ich fähig wurde, das Leben und den Menschen und mich selber in voraussetzungslosem Lichte, in quasi Célinescher Weise zu sehen, nämlich »barbarisch«, jedenfalls ganz und gar nicht gottgewollt, erst nach solcher Befreiung, beginnt meine Sprachfähigkeit Wirklichkeit zu fassen und einzubringen. Das ist Rom zu verdanken und einer Häutung. Und die Sicht wird existenzialistisch oder existenziell. Und in den Blick mischt sich nihilistische Färbung. Und das Schöpferische wird frei. Die Sicht wird auch durch die Konfrontation mit den Tachisten, der damaligen Avantgarde auf künstlerischem Gebiet – ich empfinde ihre Optik als verwandt – mitgeprägt. Und damit trete ich aus der Bahn der in der Adoleszenz Gleichgesinnten und gewinne neue Verbündete; neue Einsichten. Und werfe die alten Glaubensartikel über Bord. Statt dessen das Vorstoßen in die Bereiche der Abgründe, menschlichen Dunkelzonen, Einsamkeit, Weltverlorenheit; vor allem in den Bereich des Alltäglichen, auch Niederen. Und nun beginnt das Künstlerleben, der eigene Künstlerroman mit allen Risiken, Abenteuern, beginnt der Kampf um die Selbsthervorbringung, um die Kunst, dieses »Heil«, beginnt die Selbsterfindung. Es kommen neue Alliierte, Herausforderer und Orientierungen ins Blickfeld; zu den letzteren zählen Armin Kesser, Canetti, Farner, zu den ersteren Wegmann und Kuhn.
Brigitte, die deutsche Ehefrau, begleitet meinen Weg bis Canto . Marianne bis Stolz .
31. Juli 2005, Paris
Bildnis einer Dame von Henry James gelesen, altmodisch umständlich sensibel mit untergründig horrornahen Ingredienzien. Wunderbares Sittenbild nicht nur der viktorianisch-englischen Oberschicht, sondern auch der nichtstuerischen angloamerikanischen Führungsschicht in europäischem Exil (Florenz, Rom, Paris). Einprägsame Gestalten in einer an Wahlverwandtschaften gemahnenden, wohlmeinenden, edlen Gesinnungs- und Benehmensart, nur daß da und dort der Wurm in der schönen Frucht steckt. James ist selber nach England exilierter Amerikaner und zwischen der alten und neuen Welt weniger hin und her gerissen als verteilt. Immerhin scheint ihm sein Leben zwischen den beiden Welten und Kontinenten nicht ganz unproblematisch erschienen zu sein. Im übrigen ist er ein Zeitgenosse van Goghs und natürlich Flauberts bzw. der Naturalisten. Sein Gebiet ist die seelische Palette, wobei er es nicht bei der Ausmalerei bewenden läßt, sondern der Verletzung bis Höllenpein durchaus nicht ausweicht. Ich habe den siebenhundertseitigen Roman in einem Zug gelesen. Man müßte ihn anhand eines Turgenjew und Tolstoi überprüfen oder vielleicht eines Tschechow?
Zu den Sommerlektüren gehörten außerdem Le Père Goriot von Balzac und Sartres Nausée ,ersteren las ich anfänglich gegen meinen Geschmack, jedoch zunehmend beeindruckt von der scharf konturierten und einigermaßen schonungslosen bis höhnischen (?) Sicht auf die bürgerlichen Zustände und Verlogenheiten. Komödie. Letztere mit Begeisterung. Ich scheine mir nicht überaus weit entfernt von der Sartreschen Optik, Empfindungsweise angesiedelt zu sein.
8. August 2005, Paris
Es ist Montag; Samstag bin ich nach einer kurzen Stipvisite in Baden (Xenia-Fest zur Feier ihres Eintritts in die Kantonsschule – noch vier Jahre bis zur Matura) und einem Besuch im Literaturarchiv in Bern zusammen mit Valérie einigermaßen überstürzt zurückgefahren. Und konnte eben noch von Skwaras Pariser Kurzaufenthalt (zwischen Florenz und Ferien-Austria) Kenntnis und Abschied nehmen.
In Zürich zusammen mit Valérie und Werner Morlang an der Froschaugasse (neben dem einstigen Antiquariat Pinkus) im Restaurant »Stadt Madrid« gespeist und gesprochen. Auf dem Rückweg zum Bahnhof aus ziemlicher Distanz eine junge Frau an der Tramhaltestelle erblickt: Der Anblick ging mir durch und durch. Es war nicht viel mehr als eine Silhouette, nicht mehr als eine anmutige Haltung; Leibeshaltung, Biegung einer leicht an den Billetautomaten gelehnten Figur, ganz Liebreiz, ganz Versprechen,
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