Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
fruchtbaren Boden fiel. Außerdem war sie eine der ersten, wenn nicht die erste Entdeckerin und Beglaubigerin meiner dichterischen Talente, sie gab mir diesbezüglich einen gewaltigen Kredit als einem buchstäblich Auserwählten, was mir schmeichelte, und drittens wurde sie, wenn auch auf eine fast keusche Art – keusch des Altersunterschieds wegen –, auch meine Geliebte, die nichts forderte, sondern den (genialen) Jüngling bei erotischen Gelegenheiten als ein Gottesgeschenk ansah.
Warum zum Teufel zeichnete ich, wo ich an überhaupt nichts anderes als ein Dichterleben dachte und mir meiner mangelnden Talente im Bildnerischen nur zu bewußt war? Ich porträtierte ja auch im Gymnasium Köpfe, so meine Großmutter und den Zimmerherrn Gattiker, und zwar auf eine penetrant realistische Weise; ich zeichnete auch Bäume; und als Student belegte ich Kurse in Fritz Braakers Zeichenschule. Ich war nicht begabt. Mag sein, daß das Zeichnen zu einer romantischen Vorstellung von Künstlerleben paßte, das Festhalten. Es ging aber in dem hartnäckigen Abkonterfeien von Köpfen von ferne auch um das Problem der Bemächtigung von Realität mit annähernd künstlerischen Mitteln, und schlußendlich war es eine angenehm erregende Beschäftigung. Was nun das Kopieren der da-Vinci-Madonna anbelangt, so ging das Bestreben weit darüber hinaus, es ging um eine Art Nachvollziehenwollen des mysteriösen Ausdrucks in dem Madonnengesicht. Im Grunde kommunizierte ich mit etwas Überirdischem, während ich Strich für Strich an der Vorlage hing und während Susi wie eine behagliche Katze auf ihrer Bettcouch lagerte und den Jüngling bewundernd betrachtete und während herrliche Musik den Raum erfüllte.
In Susis Wohnung war Raum oder besser Schonraum, sie nannte mich den finsteren Tronje (aus Wagners Nibelungen ), also muß ich wohl nicht nur lustig und unterhaltsam, sondern auch verdunkelt gewirkt haben. Von alldaher die Wahl für das Kunstgeschichtsstudium? Könnte mitgespielt haben. Erinnere mich, wie ich in der Uni nach dem Zeichenunterricht eine Kommilitonin auf einem Gestell, möglicherweise Requisit für den Unterricht, obwohl es mir jetzt eher wie ein Schragen oder Tisch vorkommen will – vielleicht befanden wir uns ja in einem Laboratorium oder dergleichen –, gebumst habe; ich sage gebumst, weil keine Spur von Verliebtheit im Spiel war, einzig sexueller Hunger, und ich erinnere mich meiner eigenen Verwunderung darüber, daß die Studentin nicht nur sehr erfahren, sondern schon fast professionell mit mir umging, gekonnt. Es gab kein Danach.
19. Mai 2006, Paris
Den Film Van Gogh von Pialat gesehen. Ist mir sehr nahe gegangen, aus verschiedenen Gründen: einmal der wunderbaren (filmischen) Wiederheraufholung, Einbringung der damaligen Zeit und des zeitgenössischen Milieus wegen; zum anderen darum, weil mich Vincents Lebensumstände dermaßen berühren, als tauchte ich in eine zutiefst vertraute, fast schon eigene Lebensvergangenheit.
Auvers im Jahr 1890. Das Haus von Doktor Gachet. Das Gasthaus Ravoux, wo Vincent untergebracht war mitsamt dem einfachen Wirtsbetrieb im Erdgeschoß. Die Landschaft mit den merkwürdig schräg in die Weite verspannten Kornfeldern, die man von seinen Bildern kennt. Einzig die Kirche kommt nicht vor. Jedoch die Pariser Wohnung von Theo und dessen Gattin und das Bébé, das Vincents Namen trägt. Die Pferdekutschen, die in Bottichen waschenden Frauen, die in den bodenlangen Kleidern und mit koketten flachen Hütchen gekleideten eleganten Damen. Die Landpartien am Fluß, auf dem Kähne und Ruderer vorbeigleiten. Die Picknicks und anderen Vergnügungen im Freien, in der freien Natur, die mit Westen und Hüten auftretenden Herren, Bürgerjahrhundert. Sogar die Bordelle, herrliche Tanzvergnügungen. Die Eisenbahn nicht zu vergessen, die altertümlichen Wagen mit Türen für jedes Abteil. Und Vincent in seiner Arbeiterkleidung, mit oder ohne Strohhut, mit umgehängter Staffelei und Farbenkasten, wenn er in die Felder geht, um vor der Natur zu malen. Und die Tochter von Doktor Gachet, die im Film von Pialat ein Liebesverhältnis mit dem unberechenbaren, meist wortkargen Künstler eingeht. Jacques Dutronc spielt Vincent zurückhaltend und einigermaßen stereotyp, verschlossen und unberechenbar im Ausdruck, da ist nichts von dem aus den Briefen und der Biographie bekannten epileptischen Ungleichgewicht, nichts von dessen Eiferertum, fast nichts von den Ausbrüchen, Anfällen etc.: Auvers ist ja die
Weitere Kostenlose Bücher