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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Periode einer gewissen Beruhigung nach der Internierung in der Irrenanstalt von Saint-Rémy, einer scheinbaren Heilung, Stabilisierung.
    Wie kommt es nur, daß ich mir dieses Leben Vincents so sehr zu eigen gemacht habe, daß es sozusagen zu meinem Erinnerungsfundus zählt. Übrigens sind die Bordellszenen eher bacchantische Feste mit viel weiblicher Freizügigkeit, nun, ein überbordendes Fest des Lebens voller Genußfreude, aber auch Kameradschaftlichkeit. Im Film sehnte ich mich in jene Bürgerzeit mitsamt dem dazugehörigen Künstlerleben zurück . Und nun kam mir wieder vor Augen, wie sehr mich Vincents künstlerischer Feldzug, genauer gesagt, dessen künstlerisches Erkämpfen und Sichaneignen der Wirklichkeit, das Leben herstellen mit den handwerklichen Utensilien und geistigen Potenzen und Strategien als eine Art »Bauerntum«, als eine Art Säen und Ernten, als ein fortgesetztes Erkämpfen bis zum Grade der höchsten Erschöpfung, aber auch mit allen Verheißungen des dazugehörigen Glücks … beeindruckt, auf vorbildliche Art geprägt hat, als gäbe es keinen anderen Zweck auf Erden als solches Pionierdasein, das Künstlerdasein als einziger vorstellbarer Sinn des Lebens. Und in diesem Sinne kann ich auch meine frühe Neigung zum (naturalistischen) Zeichnen, Nach zeichnen (von Natur und Menschen) verstehen, und zwar trotz der Ausrichtung auf ein Dichterdasein: Es ist das Handwerkliche, das Buchstabieren mit dem Zeichenstift vor der Natur oder Vorlage, aber gewissermaßen an der Rippe der Schöpfung, eine Art Angenabeltsein an der diffusen Größe Wirklichkeit mit dem demütigen Zeichenstift, es war diese hingebungsvolle Tätigkeit ohne nennenswerte Ambition und jenseits von Geltungssucht, es war dieser Dienst an einer Sache, was mich antrieb. Im Grunde war es ein Glücksstreben. Und das Glück lag im handwerklichen Nachbilden, einer Hingabe. So muß es gewesen sein, denn mit einer diesbezüglichen Laufbahn habe ich nie auch nur insgeheim geliebäugelt. Möglicherweise gehört diese bescheidene Früherfahrung auch zu der Motivierung für das spätere Kunstgeschichtsstudium.
     
    Zu Vincent wie zu Robert Walser gehört die Erfolglosigkeit zu Lebzeiten, und zwar bis zum Grade der Selbstverneinung sowie der gigantische Nachruhm. Zu beiden gehören die Armut und die Hinwendung zu den Armen (den Bedeutungslosen). Aber auch das Interniertsein in der Irrenanstalt. Nebst der bis zur Askese reichenden Schwierigkeit im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Im Film ist Vincent ungelenk und unberechenbar, aber nicht blockiert im Umgang mit Frauen. Das Liebesverhältnis mit der blutjungen oder minderjährigen Tochter des Doktor Gachet hat Pialat wohl aus dem Bedürfnis nach einem Romanzenbeigemisch in den Film eingebaut. Pialat ist Van-Gogh-Kenner, er hat in seinen Anfängen gemalt und Vincent bewundert. Das spürt man. Die van Goghsche Welt mitsamt dem dazugehörigen historisch-gesellschaftlichen Hintergrund wird in seinem Film auf eine kompassionelle und traumhaft schöne Weise präsent, ich denke, mit Van Gogh möchte er ein Stück eigene Herkunft ans Licht bringen, anders läßt sich die künstlerische Traumsicherheit im Umgang mit dem Stoff nicht erklären.
    Der Film ist nicht nur von der Malerei des französischen Bürgerjahrhunderts geprägt, sondern auch von der dazugehörigen Literatur. Er ist im besten, im Schillerschen Sinne sentimentalisch. Und was die Hauptfigur betrifft, wohltuend diskret. Wie leicht wäre es gewesen, diesbezüglich dem Kitsch zu verfallen.

    1. Juni 2006, Paris
     
    Der frühe Blick
    Gut, ich hatte keine Auflehnungsphase, kein Kräftemessen mit dem Vater, nichts von Ablösung. Ich hatte aber auch kein väterliches Vorbild, der Vater war wie ein stiller Gast, eine Toleranzfigur, Fremdling oder Ausländer, ich sage Ausländer, weil nicht von dieser, ich meine, von unserer (bernischen) Welt, und seine Welt, sein Herkommen blieb pure Fama, es gab ja keine Angehörigen von seiner Seite, die ihn uns nähergebracht hätten, indem sie ihn in einen sicht- und erlebbaren Umkreis gebettet hätten. Auch sein Beruf ging aus der auf dem Briefkasten mit »Untersuchungslaboratorium« mehr verschwiegenen als definierten Bezeichnung nicht hervor; ich wußte natürlich, daß er Chemiker war, doch was tat er da oben in seinem Laboratorium? Wo kam er her, womit beschäftigte er sich? Er erfand irgendwelche Heilmittel, soviel ging eben gerade in meinen Kinderkopf. Die berufliche Beschäftigung blieb weitgehend

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