Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
verehrte Ingres immer schon, und zwar als den erotischsten, den schönsten Frauenkörperdarsteller in der Kunst überhaupt, was einen wiederum auf die Frage des (feministisch angeprangerten) Sexobjektes bringen könnte, denn: Was war denn die ununterbrochene Frauenschönheitsreverenz in den Aktmalereien anderes als Begehren schürende Verherrlichung der weiblichen Hügellandschaft – als die fleischgewordene Schönheit schlechthin, als Berückung, Traum, Trost etc.? Und der Traum zielte ja nicht einfach auf einen Kniefall, minnesängerischen. Ingres ist der subtilste, erotischste Frauenleibbildner, so in der »Quelle«, im »Türkischen Bad«, in »Die große Odaliske« etc. Er ist Klassizist, aber er geht, zumal in seinen Porträts, darüber hinaus, hier greift er vor bis zu den Realisten, nähert sich einem Manet, er ist nicht Kolorist, sondern bleibt auf Lokalfarben und einen Schwarzton eingestimmt, allerdings mit kostbaren Farbakkorden in seiner Dunkelskala; und wie die Kleidung, das modische Gehabe als Stofflichkeit mitspricht und außerdem das Psychologische, die Charaktere. Er schlägt einen Bogen von der galanten Kunst eines Fragonard, Watteau bis hin zu einem Courbet (möchte man leicht übertreibend behaupten). Er ist noch nicht bis zur freien flächigen Eindruckskunst eines Manet vorgedrungen, seine Körper und Köpfe sind plastisch gebaut, hier das Erbe der Renaissance, er ist ja auch ein Italienreisender, ist zu den dortigen künstlerischen Quellen gepilgert, Raffael-Verehrer. Er ist ein außerordentlicher Zeichner. Sein Herkommenshintergrund ist die klassische Malerei mit ihrem Mythenfundus, er hat sich darin versucht, und zwar in Großformaten, doch liegt seine Stärke anderswo. Er ist aufgrund des napoleonischen Kaiserpompes von den mythischen Anleihen nicht ganz losgekommen, doch führt sein Blick – da wo er im Porträt das Individuum ins Auge faßt, die herrschende Noblesse ausschließlich – darüber hinaus, und er wird zum realistischen Beobachter, Beobachter des Welttheaters (wenn auch unter Ausschließung des niedrigen Volkes), ein Gesellschaftsmaler. Hier steht er bei aller Qualität unter einem Goya, der in seinen besten Porträts von einer halluzinatorischen Sensibilität und schlechthin magischen malerischen Zauberei fortgerissen wird. Ingres ist nicht revolutionär, er ist kein Wegbereiter, er ist Repräsentant seiner Epoche, kein Außenseiter, eher schon rückwärtsgewandt, ein Repräsentant seiner Klasse oder eben der tonangebenden Schicht, als Künstler ein verfeinerter Erbe und Fortsetzer, nicht dämonisch wie Goya, kein Zeuge wie Daumier mit dem Hohn oder der Entlarvung des Richterblicks. Er ist ein in einem idealistischen Gebäude fast schon autistisch Eingesperrter, an dem das Brodeln des Zeitgeistes und der künstlerischen Revolution abgleitet, er hat sich schon sehr bald in eine Zeitlosigkeit zurückgezogen und in alabasterne Szenen gehüllt, und wären nicht die erotischen Frauenkörper, diese herrlichen Verführungen, man könnte ihn für einen innerlich Exilierten, von seiner Gegenwart völlig Unberührten, einen Unrührbaren oder eben geistig Verirrten halten, starke Worte, es ist einfach nichts vom Puls seiner Epoche spürbar, Ingres muß in einer idealistischen Kunstvorstellung aufgegangen sein oder in einer imperialen Verklärung. Nur als Porträtist zeigt er Krallen. Welch ein Gegensatz zu Delacroix und den Vorbereitern des Realismus.
Fiel mir ein, wie ich als Maturand oder kurz danach, jedenfalls vor meinem Studium und damit vor meiner Verheiratung bei Susi Baumgartner eine Leonardo-Madonna kopierte, stundenlang. Bern, Egelgasse. Susi war Hausbesitzerin und Sängerin, sie war durch meine Schwester, die mit ihr musizierte, in unser Leben getreten, wo sie bald einmal eine wichtige, wenn nicht zentrale Rolle zu spielen begann: eine Freundin. Nun, sie war Hausbesitzerin, und Mutter und Schwester waren Wohnungsmieter in ihrem Mehrfamilienhaus. Sie hatte in der Zwischenkriegszeit in München gelebt, in der dortigen Boheme, weshalb ihr in meinen Augen auch etwas in historischem Sinne Exotisches anhaftete, nicht nur Vorkriegsdeutschland, sondern das München des Blauen Reiters, der Rilke und George, eine Künstlerstadt par excellence, da hatte sie gelebt, teilgenommen, und von diesem Vorleben brachte sie einen Touch von künstlerischem Schwung und künstlerischer Freiheit in unser verschlafenes Bern, was natürlich bei mir, der ich derlei nur vom Lesen kannte, auf
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