Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
unerklärlich. Und damit seine soziale Stellung und Geltung. Mein Vater war kein Mensch zum Anfassen, auch nicht zum Bewundern und Liebhaben. Er führte ein von uns abgehobenes Eigenleben im Hause. Weder Auseinandersetzung noch Auflehnung, kaum Gespräche, keine Hilfe, keine Führung, keine Züchtigung, keine wirkliche Nähe. Auch keine Furcht. Ehrfurcht? Ein aus den Wünschen eingegebenes Bewundern vielleicht, ein Bewundernwollen, ja wofür denn? Für seine stille und noble (?) Erscheinung. Ganz wenig nähergebracht haben ihn mir die Lauterburgs, die ihn manchmal, als er schon krank war, im Rollstuhl abholten und in ihr schönes Haus mit Garten brachten. Die Lauterburgs, Bruder und Schwester, angesehene Berner, und wenn er sich im schönen Garten mit ihnen und möglicherweise weiteren Gästen unterhielt und ich zufällig zu ihnen stieß oder mir Einlaß verschaffte, sah und spürte ich, daß mein Vater hier nicht nur Ehrerbietung, sondern eine Art Bewunderung genoß. Die Lauterburgs waren gebildete Menschen und begütert und ansehnliche, eindrückliche Personen, der Mann ein bekannter Maler phantastischer Richtung, die Schwester Romanistin. Im Garten wurde diskutiert und philosophiert und politisiert, und hier kam Vater nicht nur zu Wort, sondern bildete den Mittelpunkt. Viel später, lange nach Vaters Tod, sagte mir der Maler, ein Koloß, mein Vater sei der genialste Mensch gewesen, der ihm je begegnet war. Und Martin Lauterburg war kein Provinzler, sondern hatte in der Münchner Boheme oder Künstlerwelt der Vorkriegszeit eine Rolle gespielt, und Bruder und Schwester, beide unverheiratet, hatten über das Bernische hinausgehende, internationale Beziehungen und Ausrichtungen. Sie waren der einzige väterliche Hintergrund, den das Kind meines Namens als Augenunterricht erfahren durfte. Nebst spärlichen fragmentarischen Bildern, Momentaufnahmen: wenn er uns in dem großen Wagen in die Ferien fuhr und gleich wieder abreiste. Wenn er den Wagen in die Garage fuhr und mich einsteigen ließ und wir beide Hand in Hand zu Fuß nach Hause spazierten. Als ich ihn zufällig in der Trambahn entdeckte und den Eindruck von einem gutangezogenen stillen feinen Herrn mitnahm …
Doch das alles gehört in die erste Kindheit und bildete das armselige Material an Vatererlebnissen, aus welchen ich mir das Andachtsbild des fernen und bestimmt nicht verächtlichen Erzeugers zusammenklitterte, ein Bild, das an Bedeutung immer zunahm und der Pol innerer Ausrichtung, vor allem auch im Zusammenhang mit russischen Dichtern und der dazugehörigen Seeeele wurde. Der Vaterverlust machte mir zu schaffen – ich war von Stund an unfähig, dem Unterricht zu folgen, und mußte das Schuljahr repetieren.
25. Oktober 2006, Paris
Was meinen Biorhythmus angeht, so müßte ich eigentlich jetzt Ende Oktober aus meiner Lethargie erwachen. Bislang schlief es in mir beharrlich: Arbeitsgedanken zogen allerhöchstens wie ferne Schiffe an meinem Horizont vorüber. Ich teilte den Tag in die Abschnitte zwischen den Essen ein, wartete wie ein Heiminsasse auf das Heranrücken der Stunde und machte mich an Vorbereitungen. Danach Fernsehen mit mehr oder weniger innerer Teilnahme bis zur Schlafesmüdigkeit. Froh um Ablenkung, Reisepflichten, so neulich London zusammen mit Valérie und letzte Woche Köln und Neuss/Selikum (Lesung Atelier Hoehme und Besuch bei Peter Henning). Beim Fahren im Zug zwischen Lektüre und Schlummern, in dieser Verantwortungslosigkeit (im fliegenden Abteil) angenehme Halbwachheit. Intermezzo-Zustände. Soviel zum Biorhythmischen. Hinzu kommt eine Art innere Starre angesichts des bereits vertraglich eingesetzten Projekts Salve Maria, das ich zwar zusammen mit Colette vor zwei Jahren sowohl aufgenommen wie alsogleich verschleudert habe (Titel: Maria, Maria ). Ich habe das »Buch« (?) schon so oft begonnen im Verlauf meines Schriftstellerdaseins und bin immer gescheitert. Von daher natürlich auch – verständlicherweise – die sture Abwehrhaltung. Vielleicht werde ich fürs Schreiben dieses Buches auf Computer umstellen. Das könnte eine Hilfsmaßnahme sein. Ich könnte mit der Arbeit herumziehen, bis ich Wurzeln schlage. Aber vielleicht gehört die innere Obdachlosigkeit zum Thema oder doch zur Voraussetzung für das Schreiben gerade dieses Buches. Es gehörte ja auch damals die Entdeckung meiner tiefinneren Treulosigkeit (Ungebundenheit) bzw. Heimatlosigkeit zum Liebesschock bzw. »Erlebnis«.
Wie konnte ich mich in dieses
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