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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Badogliopartisanen und erfuhr gleich, daß die achtbaren Künstler und Intellektuellen Kommunisten waren und womöglich eine Partisanenvergangenheit hatten.
    Und dennoch gehörte das Erwähnte zum inneren Gepäck und der inneren Verwirrung. Ich war in Rom schuldbewußt-schuldfrei, gepäck- und schicksalslos, ein unbeschriebenes Blatt, was so natürlich nicht stimmte, ich will nur auf meinen deklarierten und dezidierten Müßiggang anspielen, eine Art Protestattitüde? Rom war wiederum Trümmerbeispiel und groß gestikulierende Vergangenheitsarchitektur, barocke Gewandung, aber auch noch ein wenig Rom, offene Stadt , vor allem Fellini, er sprach für mich das Schlüsselwort: Vakuität. Goethe spielte keine Rolle, jedoch merkwürdigerweise Gogol, der hier seine Toten Seelen geschrieben haben soll, was mich seltsamerweise ermutigte. Ich erwartete von mir das Ausbrechen der Dichtung wie das Ausbrechen einer Krankheit, doch fühlte ich mich noch nicht soweit, noch galt es zuzuwarten, die Zeit herumzubringen, ich glaubte nicht an Bildung, schon gar nicht nach 1984 von Orwell, nicht nach München und Amsterdam, ich erhoffte mir nichts oder wenig vom deutschen Literaturbetrieb, ich las Gadda und Céline, und ich nahm verwundert zur Kenntnis, daß ich verheiratet und Familienvater war, obwohl ich mich ja dafür entschieden hatte, daß mein Leben hier begänne. Einmal ließ ich, glaube ich, meine Mutter herkommen, ein, zwei Mal war ich mit Armin Kesser unterwegs, viel mit den Kienlechners, die sowohl Italiener wie Deutsche waren, also Teilnehmer am Dritten Reich, Teilnehmer wie Hoehme und Bobek, die beide den Krieg und insbesondere den russischen Feldzug mitgemacht hatten, verwundet und gefangengenommen und davongekommen waren. Ich hatte wirklich und aus tiefstem Herzensgrunde nichts zu sagen, ja, was wollte ich denn? Wollte ich mich auch ein bißchen der Geschichte oder deren Abglanz einschreiben?
    Ich fuhr mit den anderen Stipendiaten auf die Insel Giglio, auf welcher unser Direktor Grossmann eine Besitzung hatte, und vom hohen Wellengang kriegte ich das Kotzen. Giglio wie Ischia, ich war da ja schon gewesen. Worauf wartete ich? Mir war, als käme ich aus keiner Familie, nun, die Kindheit war ja vorbei und die Familie aufgelöst, und ich in meiner deutschen Verwandtschaft wie ein Falschspieler. War nicht ein tiefer Defätismus in mir? Nichts, das sich mit dem Existentialismus und dem Futurismus und den Beatniks vergleichen ließ? Ich meine natürlich nicht Futurismus, ich meine eher ein Gemisch aus ekklesiastischer Welt-Herrschsucht und aristokratischem Niedergang und Neorealismus, ich meine das römische Volkstheater der Straßen und den riesigen idealen Rahmen, den die Ewige Stadt geschaffen und zurückgelassen hatte. Alles, was mich kleinmachte und auslöschte bis aufs Hemd oder Bettelhemd oder den nackten Bock, und ich meine den Fatalismus, den man hier lernen konnte.
    Ich wartete ab und hielt mich bereit. O Maria.
    Ich hielt mich in dem unvergleichlichen Warteraum auf.
    Wartete. Worauf wartete ich?
    Acht Jahre später (Mai 68/69) lernte ich dann das gesellschaftstheoretische Marxistenkauderwelsch der engagierten Jugendbewegung und deren Hoffnung und äußerlichen Mummenschanz und deren Protestsongs kennen und am Rande ein klein bißchen teilen, ich schnappte es aus dem Munde der über Nacht Revolutionäre gewordenen Studenten und Hippies auf und ernsthafter in der Diskussion mit dem Berufsrevolutionär Konrad Farner und Kollegen wie Walter Matthias Diggelmann und in Swinging London im Augenunterricht, die Beatles, und danach an der ETH, wo ich Gastdozent und insofern über Nacht so etwas wie mobilisiert worden war. Es war ein Schock, nur mein problematischer, gewissermaßen eingeborener Bürgerhaß konnte da ein bißchen partizipieren, es ging aber auf Kosten des Dichtens, wenn in jener Zeit auch, sehr langsam, das Buch Im Hause enden die Geschichten Gestalt annahm, doch das war bereits schon etwas wie Verrat. Nun, ich war damals an der Schwelle zum vierzigsten Jahr und unterzog mich einer längst fälligen Bewußtseinskorrektur oder besser -verunsicherung. Das war lange nach Rom und Maria, fast ein Jahrzehnt später und nicht mehr die Affäre des jugendlichen Aufbrechers, Ausbrechers. Ich bewegte mich als aktiver und vielgelesener nonkonformistischer Zeitungsmensch in der Öffentlichkeit und zum Schreiben in den gestohlenen Klausuren abseits: in London, Italien, Tessin, auch Paris, die Klausuren ein Vorgeschmack des

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