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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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gesteigert hat, wenn nicht alles täuscht, er scheint mir Leere oder Faulheit oder Ausfall der Schaffensgeister einfach nicht zu kennen,
    ich dachte neulich im Zusammenhang mit seinen Aufzeichnungen Gestern unterwegs an ihn oder seinen Kopf mit dem Bild vom brennenden Dornbusch . WEISS NICHT GENAU, wie ich darauf komme.
    Eine bis zur Erhitzung gesteigerte innere Sammlung?
    Den Aufzeichnungen Gestern unterwegs liegen ja zu einem großen Teil lange, tage- wenn nicht wochenlange Fußwanderungen zugrunde. Was er meines Wissens mit keinem gemein hat – Fußwanderung erinnert an den fahrenden Scholaren, auch an die Italienreisenden der Goethezeit. Die Gegenstände seiner Wahrnehmung muten auch irgendwie archaisch an, Natur und Romanik, Tageszeiten und Körperzustände wie Müdigkeit, Einkehr, Leute bei ihren Verrichtungen etc., geübt wird das innere Luzidwerden, und der Weg dahin ist das Sehen, Bildeinsammeln bis zum eigenen Leuchten, vielleicht stammt daher der brennende Dornbusch.
    Bei Handke ist der WEG, darum seine unentwegte Erzählbewegung, auch der Weg zur Läuterung oder das Mittel zur Läuterung. Meine Neugierde ihm gegenüber ist beinahe mit Schrecken verbunden. Vielleicht sind seine ganzen Bücher weniger Erzählungen als Verbildlichung seiner ewigen Weiterwerdung und in diesem Sinne Parabeln. Ich bin nie auf einen wie ihn gestoßen. Er ist keineswegs weltabgewandt im zeitgenössischen Sinne, und dennoch hat er es verstanden, innerhalb seiner Zeit und des dazugehörigen Betriebs eine Art mönchischer Disziplin zu leben, seine Gästen dargebotenen Mahlzeiten haben den leisen Beiklang des antiken Gastmahls mitsamt den Kastanien und Früchten, dem Brot und Wein, Handreichung und Einfachheit, was ihn keineswegs weltfremd erscheinen läßt, er ist im Gegenteil hellwach informiert und geradezu mit einem feinmaschigen Abhörgerät den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen und Zuständen immer auf der Spur, was die Marktlage einschließt, er ist autark, und das einzige, allerdings markante Querstehen ist seine unverständliche Option für Serbien und den untergegangenen Vielvölkerstaat Jugoslawien und dadurch für Miloševićs Greueldiktatur. Um auf die Wanderungen zurückzukommen, könnte man seine Wahrnehmung franziskanisch nennen. Ich komme immer noch nicht recht dahinter, was mich in seinem Falle so hochgradig erregt.
    Es muß sich um eine schreiende Diskrepanz bei auffallenden Ähnlichkeiten handeln, um Unvereinbarkeit, mir stellt sich das Phänomen Handke geradezu als gordischer Knoten dar, hocherregend, explosiv.
     
    Möchte wissen, was mich in die erwähnte Produktionslosigkeit einkerkert. Ob es die Angst vor dem zusammen mit dem Wohnungswechsel »drohenden« neuen Kapitel und Lebensantritt ist? Mir kommt vor, ich befände mich in einer Art Tiefschlaf oder doch somnambulen Zustand und sehe mir beim Zeitverbringen und Zeitverlieren wie einem nicht weiter interessanten anderen zu. Vielleicht holt mich auch nur die Tatsache des Alters auf schockierend lähmende Weise ein. Das Gorgonenhaupt des Alters. Dabei kann ich im Umgang mit anderen durchaus unbeschwert funktionieren, so gestern bei der Abendessenseinladung und Abendverbringung mit Colette und Jean-Baptiste. Oder täusche ich mich?

    29. Juli 2007, Paris
     
    Sartres Nausée neulich wieder vorgenommen, ich wollte meinen Eindruck verwandtschaftlicher Nähe zu meinem Fell der Forelle überprüfen, ein wunderbares Buch, Buch eines blutjungen Autors, Mitte zwanzig, ich frage mich, warum ich so lange ein renitentes, vorurteilbeladenes Verhältnis zu diesem Autor hatte, ich glaube, ich empfand ihn kalt, analytisch und glaubenslos kalt, was mit dem mißglückten Leseversuch von Les Mots zu tun haben mag, die mich damals irgendwie abstießen. Nun, anders La Nausée . Das Ähnliche oder Gemeinsame hat mit der Selbstentfremdung, beinahe Selbstentleibung des Erzählers, Roquentin, zu tun, der fast wie ein Scherenschnitt herumgeistert, aus der Zirkulation gefallen, aber darum nicht tragisch zu nennen ist, es ist vielmehr so, daß diese Isolation ihn zu einem widersinnig mißvergnügten Beobachter des bürgerlichen Alltagstheaters zu werden erlaubt, einem wahrhaft alleinstehenden, doch darum keineswegs inhumanen, der in einer Wolke abgestandener Bürgersluft zu gedeihen versteht. Gemeinsam mit meiner Figur hat er den Wunsch der Selbstauslöschung, Nichts- und Niemandsgeltung, wenn ich Scherenschnitt sage, meine ich eine Reduktion in höchstem Grade, eine

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