Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
ich seit vorgestern endlich das neue Buch angefangen zu haben scheine, ich wage es kaum zu glauben und nenne es seit meinem eben beendeten Morgenspaziergang Der Nagel im Kopf , weiß nicht wieso. Ich hatte, immer von dem Projekt Salve Maria ausgehend, an einen Anfang mit meiner Italienreise gedacht, an die nächtliche Ausfahrt, um das Ich nach Italien zu befördern, doch das alles ergab nichts oder ödete mich an. Und so dachte ich an Personalien und daß ich sie nicht mag oder daß der Schreiber sie nicht zu mögen vorgibt, der Gedanke, der Satz war aus der Luft gegriffen, und dann ging der Satz im Selbstgesprächston seiner Wege und wuchs sich zu über zwei Seiten aus, und ich dachte, jetzt habe ich das Buch angefangen, ob es der Monologton von der Forelle ist, stehe dahin, ein Ton ist es. Und die Erzählweise vagabundierend, aber auch vernagelt oder eigensinnig, ich finde das Wort nicht, egal. In dieser vagabundierenden Kopfreise kann ich einfach alles unterbringen und einfangen, das Nächste und Fernste, sogar Maria. Habe den Anfangssatz gestern Martin Dean und Silvia vorgelesen, und er passierte die Zollgrenze, und spät nachts las ich den ganzen Anfang Odile vor, die an dem Ganzen ihre Freude hatte oder zu haben vorgab. Und sollte ich wirklich mit dem neuen Buch angefangen haben, so bin ich gerettet, weil ich meine Arbeit habe, mich von dem Text führen und verführen lassen kann, nimm mich an die Hand. Und der Rest ist Schweigen. Jetzt wird es sein wie beim Schreiben der Forelle , der Text schwänzelt aus der Tastatur der uralten Maschine, und ich lasse mich überraschen, jeden Tag ein Stückchen weiter, mal sehen, wohin das führt. Wenn nur der Nagel im Kopf hält und nicht nachgibt.
Silvesternacht wie der Heilige Abend vermutlich mit den Oehlers, Dodolphe und Ulrike an der Avenue Trudaine. Zum Jahresende 2007 gehört die unmittelbar bevorstehende Liquidierung der Wohnung und Adresse 262, rue Saint-Honoré beim Palais-Royal sowie die Übersiedlung in den Montparnasse.
Was mich umtreibt, ist die Frage, warum ich so lange mit dem Anfangen des neuen Buches nicht nur zugewartet habe, sondern in den qualvollsten innerlichen Märtyrien zubrachte. Vermutlich hatte ich die irrige Idee, einen Plot oder Plan für die Maria-Story finden zu müssen, und zudem eine Ahnung darüber, was sich hinter der mich über Jahrzehnte wie einen Albtraum begleitenden Thematik (an Herrlichkeit und Tiefsinn) verbarg. Alle vorstellbaren Wege zu der Maria lösten sich in nichts auf, kaum daß ich sie innerlich anvisierte. Das Vorhaben zerbröckelte, zerrann wie eine Schaumtorte. Bis meine Verzweiflung vor dem offensichtlich unerreichbaren Vorhaben so groß wurde, daß ich es gewissermaßen mit dem Schuh wegschob und statt dessen den anscheinend sinnlosen Satz »Immer schon hatte ich Mühe mit meinen Personalien« hinschrieb und einen zweiten Satz hinzufügte, der mir das Gefühl gab, ich hätte einen Ton angeschlagen, und damit hatte ich die überlebensgroße Hausaufgabe und die dazugehörige Last vom Buckel und konnte anfangen, und zwar wunderbar verantwortungsleicht. Wir werden sehen. Immerhin scheint die Blockade gewichen. Bin gespannt, wie ich, wenn überhaupt, auf die Maria zurückkomme. Statt Maria Der Nagel im Kopf .
2008
19. April 2008, Paris
Merkwürdige Heimwehgefühle für die alte Wohngegend rund um Palais Royal. Immer wenn ich von der Rive Gauche kommend die Seine überquere und sich das Panorama von Louvre und den Rivolidächern hinter den Gärten der Tuilerien abzuzeichnen beginnt, überkommt mich ein schmerzliches Heimweh- oder Heimkehrergefühl. Offenbar liebte ich diese großgebärdige Architekturräumlichkeit mitsamt den Arkaden und den kleinen Quartiergassen hinter Saint-Roch und hinter dem Garten des Palais Royal über alles. Oder es hat sich mir in den fast dreißig Jahren wie ein erweiterter Leib anverwandelt. Nun, ich bin eben am neuen Wohnort noch nicht heimisch, das will seine Zeit. Die Frage ist, ob ich ein Montparnassien werden kann. Mit Montmartre, meiner allerersten Wohngegend, der Tantengegend, fühle ich mich bis heute verwachsen. Man wird sehen. Ich bin ja inzwischen weiß Gott kein jugendlicher Newcomer mehr. Das erschwert alles.
Ich beginne das neue Viertel zu entdecken, vor allem entdecke ich die Verkehrswege und die in Frage kommenden Transportmittel. Bis dahin hatte ich mich auf die Achse des 68er-Busses beschränkt, der über Saint-Germain und Boulevard Raspail vom alten zum
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