Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
ist ein halbes Leben her – waren der erste Auftritt in der Schweiz nach meiner Abwanderung nach Paris. Ich war gerade zwei Jahre weg und alles andere als selbstgewiß, ich wußte ja keineswegs, ob sich die Hoffnungen auf einen radikalen Neubeginn erfüllen würden. Auch hatte ich kein neues Buch unter der Hand, jedoch viel notiert. Ich wählte aus dem Stoß Notizen einen Teil aus, die Blätter handelten von dem neuen Alltag, von Kleinmut und Übermut, Einsamkeit; von einem Bordellbesuch und dem erinnerten Besuch der Mutter im Altersheim, vom Schreiben. Die Kollegen hörten sich den Bericht des Abtrünnigen freundlich an, ich erinnere mich an das aufmerksame Gesicht von Gerhard Meier, die belustigte Miene von Gertrud Leutenegger, das Schmunzeln von Freund Fringeli. Und an die kluge Moderation von Heinz Schafroth (oder moderierte Christoph Kuhn?). Das Vorgelesene erwies sich später als der Romananfang von meinem Jahr der Liebe . Es gibt ein Foto von der Tagung. Ich sehe aus wie einer, der friert.
25. April 2008, Paris
Man sitzt ja im Käfig der eigenen Einbildung, ich meine Selbstbildnisses, man schaut ja nicht in den Spiegel, sieht nicht die altgewordene Ausgabe seiner selbst, wie alt ist das Selbstgewissen, ich meine das Bild von sich, das man herumträgt, etwa in der Metro, so wie heute auf der Linie Porte de la Chapelle, unterwegs zur Bank, um eine Überweisung ins Ausland zu veranlassen, Schuldenzurückzahlung; und wer ist der, der dem gegenübersitzenden Mädchen, jungen Frau zuschaut, die jenen unantastbaren Liebreiz atmet, der nur jungen, noch unverletzten, insgeheim hochgemuten, selbstgewissen Frauen eigen ist; alles war Anmut an ihr; ich las die Haltung des schönen Gesichts, den Mund, die bewimperten Augen, den Blick, ich spürte das Wesen auf, das sorglos selbstgewisse, ich konnte nicht anders, ich lächelte sie an (da sie ja merkte, wie ich in ihr las), und sie lächelte zurück, nein, das Zurücklächeln entschlüpfte ihr gewissermaßen, nur für einen flüchtigen Augenblick, bevor sie sich wieder zusammenfaßte, ich vertiefte mich wieder in die Zeitung und dachte, Mensch Mann, so alt und lächelst einer Unbekannten zu in der Metro, und als sie aufstand, sah ich das ganze Persönchen, wunderbar die Silhouette, ein Traum von einem Anblick, und wie sie entschwand, an der Station Madeleine, ob sie da wohnt? möglich, sie paßt jedenfalls da hin, dachte ich noch und spurte meine Gedanken auf das Bankgespräch ein.
Und eben hat Hörning angerufen, ganz überwältigt von der offenbar umwerfend groß aufgemachten und einfach wunderbaren Huldigung meiner Schriftstellerperson in der Berliner Zeitschrift Liebling .
Ich kam wohl darum auf die Frage nach dem Alter der eigenen Identitätsvorstellung oder besser gesagt des inneren Paßbildes, weil Hörning von den in Liebling abgebildeten Fotos sprach, den von dem Schweden für diesen Anlaß aufgenommenen und der Fotostraße, wie Martin Simons, der den Text schrieb, sich ausdrückte, um die verschwenderische Bildrepräsentation hervorzuheben; kam darum darauf, weil ja die Bilder oder Konterfeis in einem bestimmten Alter immer ein Schock sind, so siehst du aus? schrecklich! und dann erwischt man sich dabei, wie man eine erregende Schöne nicht nur von ferne bewundert, sondern wie eine zu Erobernde (wie der Jäger das Wild) anschaut oder anstarrt, einfach hemmungslos. Und das bei deinem heutigen Aussehen, denkt man hinterher. Nun, es ist wie in dem Traum von dem Weltmeisterschaftsboxkampf, immer alles möglich, wenn das Wünschen nur ausreicht. Jeden Tag schreiben, jeden Tag ein wenig die Schreibmaschine bewegen, nur nie aussetzen. Hörning meint, bis Solothurn dürfte sogar das neue Journal gebunden vorliegen. Prima.
8. Mai 2008, Paris
Die Solothurner Literaturtage – diesmal zum dreißigjährigen Jubiläum – waren eine Art (verwirrender) Apotheose, die Lesung im großen Landhaussaal gerammelt voll, an die achthundert Besucher, wie man mir sagte; und selbigen Tags, vor den Mittagsnachrichten, ein ausgedehntes Radiogespräch, das ich einigermaßen energisch bis humoristisch durchfocht; fast könnte man mich zu nationaler Größe aufgebaut sehen, mich den Abtrünnigen.
Zu den Tagen erschienen Valérie, Leonid, Xenia, Valentin, Nina aus Riga nicht zu vergessen. Viel viel Volk, einige wenige alte Kollegen (Pedretti Bichsel Steiner Muschg Martin Dean …). Ich las aus dem neuen Journal, das eben erst herausgekommen ist, ich las aus den Korrekturfahnen.
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