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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Musenhügel mit russischer Kapelle, Jugendstilmuseum, Akademie, das Studiose oder Gelehrsame als Lebensluft in dem privatimen Jugendstilviertel, der schöne Hergang von Preisverleihung, vorgängigem Wettlesen für den Förderpreis und festlicher Tafel. In der gutdeutschen Stimmung (zu welcher ich auch bei meinem Berliner Aufenthalt zurückgefunden hatte) ist auch ein Wiederanknüpfen an meine Anfänge, die deutsche Studentenehe, die deutsche Verwandtschaft, das alles in den fünfziger Jahren. War nicht die ganze Ausfahrt in Valéries Wagen eine Art Rückkehr? Ich weiß nicht recht, mich will dünken, es stecke oder schwebe in solch deutschen Bildungsbürger-Wohnvierteln ein Überleben von Stimmungen und Kultur(werten), die mich aus der deutschen Literatur vor dem Krieg erreicht und auch ein bißchen geprägt haben. Das Prickelnde besteht darin, daß mir derlei Überlegungen jetzt aus meiner Pariser Optik zufallen.

    26. Dezember 2007, Paris
     
    Ich sehe den Berner Hauptbahnhof in seiner damaligen winterlichen Verlassenheit zu später Nachtstunde vor mir, man schrieb das Jahr 1950, Februar und klirrende Kälte, wie mir später mit Blick auf die verlassenen Bahnhöfe im frostigen Laternenlicht vorkam, es ging um meine Ausreise, es ging um einen Aufbruch, Ausfahrt? Ich war zwanzig und mager und trug Pelzmütze, Rucksack, Koffer, vor allem war ich allein. Auf dem Bahnhof oder vielleicht Bahnsteig neben meiner Mutter, obwohl ich mir da nicht sicher sein kann, Fritz Braaker mit seiner Frau Vroni, die Eltern meines Schulkameraden Jürgen, die eine Art Ersatzelternrolle innehatten. Mein Geleit. Es ging ja um ein Abschiednehmen und Ausfahren in die weite Welt. Und kalt war es in meinem leeren hölzernen Abteil, und ich in dem dicken Wintermantel, in dessen Tasche ich die Bahnkarte trug: Bern–Reggio di Calabria (einfache Fahrt). Allein in der nächtlichen Kälte des Zuges, das Ende des Kriegs war erst kurze fünf Jahre her, und der Mut war nicht überaus groß. Warum fuhr ich in die weite Welt hinaus? Ich war gerade Abiturient, noch nicht Student, angehender Dichter war ich in meinen Augen, kein Student, das Studentsein war für die anderen, die Schulkameraden, die Vatersöhnchen, die beflissenen, ich gehörte nicht zu ihnen, ich gehörte zu den Aufbrechenden. Von Schlaf keine Spur, ich starrte durch das Fenster ins Dunkel oder in mein Spiegelbild, das in kürzeren oder längeren Abständen durch winterliche Bahnsteige fremder Bahnhöfe in frostigem Laternenlicht abgelöst wurde. Das Rattern, das Rollen der Räder, das Mithüpfen des Körpers, vielleicht leise Bangnis im Innern oder in der Magengrube, auch vage Erwartung. Ich fuhr weg aus der Kindheit und ins Leben hinein. Bangnis und Erwartung lösten sich auf in schicksalsergebener Müdigkeit, in leichtem Schlummer, in rein körperlichen Sensationen. Ich frage mich, was ich verließ.
    Sehe ich den Reisenden von außen, klebt nichts von verlassener Nestwärme an ihm, offenbar gibt es kein Nest. Wohin will er, was flieht er? Die Idee mit der Reise in den tiefen Süden ist ihm aus allerlei Anstößen zugefallen. Da war der Fragebogen des Klassenlehrers nach den Zielen der Abiturienten: Studienrichtung, Studienort. Ich hatte die Studienrichtung durchgestrichen und statt dessen Schriftsteller eingesetzt. Als Ort hatte ich Liparische Inseln angegeben. Auf die Liparischen Inseln, die mir schon als Vorstellung eher suspekt vorkamen, war ich durch einen Studenten namens Armin Balzer verfallen, einen Medizinstudenten, mit dem mich eine eher neugierige denn freundschaftliche Beziehung verband, schon darum, weil er ein Moribund war, ein von einem Hirntumor Operierter, der nurmehr wenig Lebenserwartung und darum nichts zu tun hatte und ein- oder mehrmals zu Besuch kam und mich auf die Liparischen Inseln gebracht hatte, weil er sie kannte, wie er sich im übrigen auch in der Literatur auskannte und von daher für meinen Fall ein gewisses Interesse aufbrachte. Ich hatte Zeit, weil ich nicht studierte, und er hatte Zeit, weil er studiert und womöglich abgeschlossen, aber als Todeskandidat keine Zukunft hatte. Statt den Liparischen Inseln hatte ich mich mit Hilfe der Landkarte oder des Globus für Reggio entschieden, nach Reggio gab es Fahrkarten, umsteigen in Rom. Doch warum wollte ich ausreisen? Eine romantische Idee? Die Mansarde war kahl und abgeschrägt, minimal möbliert, ein Kohleofen mit einem den kleinen Raum durchquerenden schwarzen Rohr, Kanonenofen, eine Gauguin-Reproduktion

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