Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
mit Südseemädchen, in solcher Umgebung, meine ich mich zu erinnern, fand die Unterhaltung mit Armin Balzer statt. Waren wir denn 1949 noch nicht aus der Länggasse verzogen? Gab es die Überbleibsel der Familienpension, die Restbestände meines Kindheitsdomizils denn noch? Ja, denn sonst hätte ich ja die Jenny aus meinem Stolz , die ich erst nach der Rückkehr von der Italienfahrt kennenlernte, nicht nächtlicherweise in die bereits unbewohnte, leerstehende Länggassewohnung verbringen können. Warum ich die Reise unternahm? Womöglich hatten wir die neue Wohnung in der inneren Enge bereits, vermutlich war alles bereits liquidiert? Die Erinnerung vermeldet nichts von Obdachlosigkeit, fehlendem Domizil, obwohl ich dann ja bald einmal definitiv in die Mansarde Gerechtigkeitsgasse eingezogen und nur besuchsweise zu Mutter und Schwester an die Egelgasse im Ostring gegangen bin. Ich wundere mich darüber, daß ich so wenig unter der häuslichen Instabilität, dem Fehlen von Anhang gelitten zu haben scheine. War ich so verdammt selbständig? Ich war gerade eben zwanzig, ohne Beruf, ohne Einkommen, Sicherheit, Nestwärme, alle anderen hatten ein Elternhaus, einen familiären Hintergrund, materielle Polster – ich hatte bloß Zukunft und Zukunftshunger, Lebenshunger und etliche Selbstüberzeugtheit, Einbildung, Einbildungskraft, Unbekümmertheit, Lust auf Erfahrungen und Feuerproben, Neugierde darauf, was mir die Zukunft bescheren würde. Und so fuhr ich durch die februarkalte Nacht in den Süden in meiner Pelzmütze und dem dicken Wintermantel, bald einmal einigermaßen vergnügt.
In Rom bin ich zwischen den Zügen schnell zum Tiber gelaufen, und nach Rom ratterte die Bahn die Meeresküste entlang, und der Zug war überfüllt von italienischem Volk, die sich an Wein und Salami und Früchten gütlich taten, und bald einmal tauchten vor den Fenstern die Orangen- und Zitronenhaine auf, eine junge Frau stillte ihr Kind an der prallen nackten Brust, wo fuhr ich nur hin? Ich hatte in ganz Italien nichts, das ich ansteuerte, nichts, das mich erwartete, für mich war ganz Italien ein großer fremder unbetretener Stiefel und Kontinent. Ich fuhr durch und hatte kein Ziel, nur leise Bangnis bei der Vorstellung, was ich mit mir anfangen sollte bei soviel Fremdland und bei den erbärmlichen Sprachkenntnissen. Eine Adresse trug ich bei mir, die hatte mir Armin Balzer vor dem Abschied zugesteckt – für alle Fälle. Es war die Anschrift von Freunden seiner Eltern in Neapel, sie lautete auf ein Meeresforschungsinstitut, das im Volksmund Acquario hieß.
Reggio war der reine Spuk, weiße Kuben die Häuser, die nähere Umgebung Kakteenwüste. Die Hauptverkehrsader zur Zeit des mittäglichen Stoßverkehrs ein Tumult von energiegeladenen Vehikeln, ein dröhnendes Spektakel, danach schien die Stadt wie ausgestorben unter der Hitze. Ich bezog ein billiges Hotel, ich lief herum, ich verdrückte mich in ein bescheidenes Eßlokal, aller Augen richteten sich auf den auffallenden Fremden, der nicht viel mehr als ein Jüngelchen war. Ich lief zum Meeresstrand. Ich trieb mich herum, ich sog die Luft der mich ausschließenden Fremde ein, ich entzifferte mühsam das Unbekannte oder versuchte es auch nur. Ein anderer hätte einen Stadtplan erstanden, um sich ein Bild von der fremden Umgebung machen zu können.
Im Hotel kehrte eine mürrische Matrone den von Wursthäuten und anderem Abfall übersäten Steinboden auf, das Bett schien schmutzig, einen Balkon, den gab es. Spazierengehen, essen gehen. Da war einfach niemand gewesen, der mir zu Hause Ratschläge gegeben oder Befürchtungen ausgesprochen hätte. Warum nur, warum ließ man mich so wortlos, so sorglos ziehen? War da niemand, der sich um mich kümmerte? Oder wären Bedenken an mir und meiner Selbstüberzeugtheit abgeprallt? Vater war tot, Großmutter verstorben, die Schwester eigensüchtig, die Mutter? verschüchtert? Ich schiffte mich bald einmal nach Sizilien ein. Und fuhr wenig später von Messina nach Neapel zurück, um mich im Meeresforschungsinstitut vorzustellen. Von da nach Ischia.
30. Dezember 2007, Paris
Morgen ist Silvester, Odile fährt möglicherweise nach Basel zu Freunden, Igor reist morgen nach Reutlingen ab, um dort zu feiern, bevor seine ersten Examina angehen. Mich stört das Alleinsein keineswegs, würde allenfalls zu Saint-Julien-le-Pauvre pilgern wie meistens und zu Hause aufräumen, den Dreck vom endenden Jahr wegkehren und ein paar Zeilen oder Seiten tippen, wo
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