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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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neuen Domizil eine Direktverbindung herstellt. Nun tendiere ich neuerdings mehr in Richtung Port Royal–Observatoire (Closerie des Lilas), um mit dem Bus 38 über den Boulevard Saint-Michel in Richtung Stadtmitte (St. Michel, Notre-Dame, Châtelet etc.) runterzustechen; so heute früh, die Straßen leer, weil Wochenende. An der Bushaltestelle Val-de-Grâce ein Asiate im Unterstand der Haltestelle, die randvoll mit Kartons und ähnlichem Gerümpel vollgestopft war, er schien die »Ware« (wo immer sie herstammt) wie in einem Magazin zum Entsorgen (?), Zusammenzuschnüren? zu stapeln? im Begriff zu stehen. Erinnerte mich an Altwarenbootsleute auf dem Mekong. Eifrig beschäftigt. Auf der gegenüberliegenden Seite, ebenfalls im Unterstand der Bushaltestelle, ein armer Kerl mit einem nicht nur verrenkten, sondern einem rechtwinklig abstehenden Hals und Kopf. Er war nicht einfach verunstaltet, er war verwachsen, verkrüppelt, ein noch jüngerer Mann; und wenn er die Flasche, unter schrecklichen Leibesverrenkungen aus der Tasche hervorzuzerren sich anschickte, mußte er sich halb querlegen, um sich zum Trinken in die geeignete Lage zu bringen. Während er nur so dasaß, in einer verräterisch verqueren Haltung, hätte man annehmen können, er habe einfach den Kopf zur Seite geneigt, doch ließ einen das Übertriebene näher hinschauen; während er also in seiner üblen Lage und in dem Versteck des Unterstands so dasaß, redete er andauernd vor sich hin und gestikulierte dabei mit den Fingern. Er war in seiner Verrenkung wie in einem Käfig oder Folterstuhl gefangen. Und etwas weiter schickten sich drei Männer an, ein schönes Motorrad in einen hinten offenen Lieferwagen zu schieben, ich ertappte mich dabei, daß ich an Diebstahl dachte, obwohl die Männer in ihren Arbeitsgewändern annähernd uniformiert wirkten. Und die Bäume standen im jungen Laub, und dann kam der Bus, und der etwas ältere unternehmerisch wirkende, gutangezogene Mann, der mit mir zusammen gewartet und den vor sich hin werkelnden Asiaten verwundert betrachtet hatte, ich las Frage und Zweifel in seinem Gesicht, stieg vor mir ein, und wir rollten den sonnabendlich leeren Boulevard hinunter bis in die Rue de Rivoli, wo ich in den Bus 72 umstieg, um wieder einmal zu meinem Lieblingsmarkt Nähe Musée d’Art Moderne Avenue du Président Wilson zu fahren. Welch ein Unterschied zu den mir bis heute bekannten Märkten in meinem neuen Wohnviertel: Im Vergleich zu dem an einen Volksaufstand gemahnenden Marktwarengetümmel in der Gegend Edgar Quinet ist mein Lieblingsmarkt eine heitere Folge lieblicher Marktstände unter Wolken wunderbarer Gemüse-, Früchte- und Fleischdüfte. Eine Straße angenehmster Überraschungen. Die Vorliebe für Märkte stammt aus meiner Kindheit und gehört zum wenigen, das ich erinnerungsweise mit meiner Mutter verbinde, die ich jeweilen begleiten durfte.

    22. April 2008, Paris
     
    Nach Odiles neuerlichem Einsatz in meiner neuen Wohnung (Küchenschränke, Umtopfen der von Eva spendierten Kamelie, Ordnungschaffen in den Wäsche- und Kleiderablagen etc.) nimmt die Wohnqualität merklich zu. Sie und ich haben ein neues, gegenseitig auf Anerkennung und erhöhtem Verständnis beruhendes Verhältnis gewonnen, offensichtlich haben wir beide hinzugelernt oder auch nur: den anderen neu kennengelernt.
    Ohne tägliches Schreiben verkomme ich. Da seit dem Umzug ohne Fernsehen, hat das nächtliche Lesen wieder eingesetzt, neuerdings in einer Nacht Stifters Witiko durchgesehen, mit Genuß und Gewinn; der Nachsommer gehörte zu meinen stärksten Leseeindrücken in der Gymnasialzeit (auch Bunte Steine , die Erzählungen). Zuletzt wieder in den wunderbaren Tschechow eingedrungen, nebst Bunins Tschechow-Erinnerungen. Vordem Wassili Grossman und Primo Levi, die Schrecken der totalitären (Konzentrationslager-)Systeme, das Entsetzen, die Hoffnungslosigkeit gegenüber dem Menschentum, angesichts der Ungerechtigkeit, der Vertierung. Falsches Wort. Ent-menschung.
    Nächte von unstillbarem Lesehunger durchflackert. Die wunderbare Person, die überwältigende Menschlichkeit und Gerechtigkeit Tschechows. Das Wüten meiner Schwester am Telephon, zwischen den grundlosen Wutanfällen gegen wen auch immer nicht nur helle, sondern wissende und packende und darum ermutigende Bemerkungen über Musik und das Handwerk des Klavierspielens und ihre Kunsttrunkenheit. Vitalität kann man ihr nicht absprechen, weiß Gott.
     
    Die ersten Solothurner Literaturtage – es

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