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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Ich bin eine Art Literaturheiliger geworden, will mir scheinen.
    Bei Valérie in Baden eine Essenseinladung mit (Kienlechner) Betsi und Valentin und Marianne und den Wüschers aus Schaffhausen. Den Tag danach mit Martin und Silvia Dean-Henke in Hergiswil am Vierwaldstättersee bei Martin Kilchmann; Kilchmann hat den Materialienband bei Suhrkamp gemacht und war in den achtziger Jahren blutjung des öftern bei uns an der Rue Labat. Und ich war des öftern in Luzern in ehelichem Exil, in schöner lebenssüchtiger Verbannung, das war noch vor dem Hund Flen und zu Zeiten des alten noblen Rover. Ich war ein bißchen verliebt in Barbara Leisinger, die in der Kunstgalerie Renée Ziegler (als Galerieassistentin und Liebreizkönigin) eine Menge Kron- und Heiratsprätendenten empfing, darunter mich. Es gibt eine kleine Prosaskizze davon oder darüber, weiß nicht mehr, wie sie heißt. Es war in den Sechzigern.
    In der neuen Wohnung Rue Campagne Première ist es angenehm kühl bis kalt und leider ziemlich dunkel. Jetzt noch Korrekturlesen von Dianes Übersetzung der kommenden Essays und Kurzprosa. Danach den Text für Goldschmidt (Text & Kritik) fertigstellen und dann an den Nagel ( im Kopf ).

    8. Juni 2008, Paris
     
    Schwermut. Nein, meine Mutter war eher eine Frohnatur, wenn ich mich auch daran erinnere, daß sie uns Kindern gegenüber damit gedroht hatte, in den dunklen Wald zu gehen und nicht wiederzukommen, falls wir nicht gehorchten oder was immer taten oder unterließen: was mich vermutlich tief erschreckte, sonst erinnerte ich mich ja nicht daran. Schwermütig war die schöne Lena, wie sie in meinem Haus -Buch heißt, die Hausbesitzers- und Juweliers-Witwentochter, die sich tagelang in ihr verdunkeltes Zimmer einschloß und mit einer unnatürlich und widerlich piepsigen Stimme antwortete, wenn ihre verschüchterte und bald einmal versteinte Mutter anklopfte; und ich erinnere mich, daß diese dabei wie von einem Schlag ins Gesicht zurückwich. Man hat die schöne, die in normalen Phasen wohlriechende, berückende Schönheit ja dann eines Tages auf eine Tragbahre geschnallt die Treppen hinuntergetragen und mit der Ambulanz ins Irrenhaus oder eine Klinik verbracht. Und Lenas Mutter hat gleich danach das Haus, das ganze große Mietshaus, verkauft. Und hat nie wieder von sich hören lassen. Und von Schwermut vorübergehend heimgesucht schien mir die alte Dame Mihma Dohrn auf Ischia, sie schloß sich auch in ihr Zimmer ein, verkroch sich gewissermaßen ins Dunkle, bis ich sie mit List und Tücke dazu überreden konnte, mich auf einen Spaziergang zu begleiten, was ihr anscheinend aufhalf und aus der inneren Dunkelhaft befreite. Ich war zwanzig und ungefiedert, und sie eine Flüchtlingsfrau aus Pommern oder Schlesien, Gutsbesitzersgattin. Ich komme auf die Schwermut zu sprechen, als wäre sie das mir Vertrauteste von der Welt, heute gebraucht man das Wort nicht mehr, man hat es durch Depression ersetzt. Ich meine Odiles für depressive Anwandlungen oder Zustände empfindliche Person, sie stürzt ja immer von neuem ab, es hat mit Unerfülltsein, mit Einsamkeit, tiefem Entbehren und daraus hervorgehender Mutlosigkeit manchmal bis zur Erschöpfung zu tun. Woher das Glück nehmen. Früher dachte ich an Schwermut wie an eine Frauenkrankheit unter vielen anderen.
     
    Nein, meine Mutter war eher eine Frohnatur, wenn sie nicht wie eine Automatin agierte, vor allem im Alter, wo sie so sehr verbohrt und unzugänglich und unnatürlich wurde – oder war es Eingeschüchtertsein? ein vor lauter Einschüchterung Steifsein?, so daß alles aufgesetzt an ihr wirkte und sie unerreichbar zu sein schien. Ich glaube, Schwermutsanfälle haben tiefe Ratlosigkeit zur Voraussetzung, Ratlosigkeit, Sinnlosigkeit. Desorientierung.
     
    Brigitte kannte auch Schwermutszustände, will mir scheinen. Wie pubertierende Mädchen. Ich frage mich, woher mir die genannte Geistesverfassung so vertraut ist. Ich bin ja nie mutlos. Oder wäre ich jemand, der beim andern, beim Nächsten, Schwermutsanfälle auslösen kann, dachte ich auch schon.

    17. Juni 2008, Paris
     
    Übermorgen (früh) gehts nach Frankfurt, Düsseldorf, Baden, Basel, ins Elsaß (Laissue, Atelier), eine Art Geschäftsreise – Düsseldorf und Elsaß sind ja Kunsthandelskontakte zwecks möglicher Auftragstexte; im Verlag Abklärungen über kommende Publikationen. Ulla Berkéwicz, Hörning, Rainer Weiss, Maria Gazzetti, Gstrein: zu Freundschaftsgesprächen.
    Im Zusammenhang mit dem Nagel im Kopf

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