Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
von Märchen oder Sagengut, von Mythologie und Traum wie das Schlachthaus von Versailles oder Bilderbuch. Und doch schöpfen beide aus dem gleichen Fundus. Soutine war bitterarm, als er in Paris ankam und in ungeheizten Ateliers wie in der RUCHE bei Kollegen unterkam, eine Art Obdachloser, ein kunsthungriger Hungerleider, ein armer Scholar. Und ist dann in der Vorkriegszeit von einem amerikanischen Sammler entdeckt und an-, wenn nicht aufgekauft worden, von einem Mr. Barnes, der in der chemischen Industrie reich und kunsttoll geworden war. Der zerlumpte Litauer und Judenbub auf einmal in Schneideranzügen und mit Uhrkette vor dem Bauch. Während der Okkupation im Süden in der Klandestinität, magenkrank, erst in den Pyrenäen, zuletzt in der Touraine, zwischendurch in Montparnasse, gestorben 1943, gerade fünfzigjährig. Er hat in seiner Malerei Landschaften wie Menschen gewissermaßen ausgeweidet, das Blutrot geistert durch alle Bilder, durch alle noch so kostbaren Farbtöne. Es ist vielleicht das Blut der geschändeten Opfer, der geschändeten Kreatur, einfach nichts von Verschönerung, Umdichtung. Vielleicht hat der Aufruhr, das Sich-Aufbäumen mit dem Gejagtsein oder der Notion des Verfolgten zu tun. Jedenfalls ist der Klang des Leidens nicht zu überhören.
Montparnasse meine neue Wohngegend. Montparnasse ist auch Soutines Parisgegend, sein Kunsthändler Zborowski war ihm von Freund Modigliani (Livorno) zugeführt worden, er zahlte dem unter Vertrag Genommenen gerade 5 Francs Taggeld. Er war anscheinend auch Varlins Händler gewesen, wenn auch nur kurze Zeit, Varlin kommt ja von Soutine, wenn er auch als Porträtist karikaturaler gewesen ist als jener und in den Fassadenbildern von Spitälern und Hotels eigene schöne Wege gegangen ist; auch Varlins Hotel- und Dienstbotenpersonal kommt von Soutine. Ich nähere mich durch Soutine meinem neuen Wohnort im Montparnasse und mit ihm und Riga Vaters Herkunftsgebiet.
Nun schon mehrmals in der neuen Wohnung und Gegend gewesen und immer von einer leisen Vorfreude erfüllt, Freude auf ein neues Leben, wenn man denn in meinem Alter noch so sprechen darf. Neue Gegend gleich neues Eintauchen in die Arbeit. Das Montparnassische ist lebensleichter, weil künstlerischer als die noble Schönheit des Palais Royal. Lange hatte ich Angst wie vor einem Abstellgeleise oder einem Abgeschobenwerden, vor Einsamkeit eben. Ich mag mich täuschen. Nun gehts morgen per Flugzeug über Mulhouse in die Schweiz, erst nach Bern, zu Walter Hunziker und zur Schwester, danach mit Valérie im Wagen nach Darmstadt zur Entgegennahme des Kranichsteiner Literaturpreises. Auch in Deutschland der Eisenbahnverkehr durch Streiks lahmgelegt; wie hierzulande. Wenn ich an dieses größtenteils elende, weil unproduktive Jahr zurückdenke, das durch die Ausbürgerungsunruhe, die Finanzanstrengungen und -Beunruhigungen im Zusammenhang mit dem Wohnungswechsel und durch Odiles depressive Lebenskrise beschwert und verdüstert und vor allem blockiert gewesen ist, dann sind als Aktiva eben nur der Preis und die Aufnahme in den Petit Larousse (dies im Sinne einer sanktionierten Anerkennung) aufzulisten. Die große Unruhe oder Panik hat den Namen Entwurzelung, das untergründig Belebende könnte den Namen Abenteuer tragen.
25. November 2007, Paris
Das Unterwegssein hat mich ein wenig aufgemöbelt. Erst die Station bei Walter an der Erlachstraße (nach dem der Streiks wegen in beträchtlicher Panik angetretenen Flug nach Mulhouse/Basel und anschließender Fahrt nach Bern). Das gute alte Holzhaus der Hunziker, ein Zeuge meiner Kindheit, jetzt meine Berner Station. Das schöne lange Abendessen und Tafelgespräch, die Freundschaftsstimmung, die alte Länggasse, ganz nahe die Paulus-Kirche und das Revier des Falken. Das Wunderbare ist der Austausch nicht nur der Neuigkeiten im Zeichen der schon bald lebenslangen Freundschaft. Den Anmarsch über die große Schanze an der Uni vorbei nicht zu vergessen ist jedesmal Eintauchen in die Kindheit. Anderntags mit der Schwester zusammen in der Altstadt und zum Essen ins Kirchenfeld; das Museum, die Assistentenzeit. Das Bruder/Schwester-Verhältnis, das den Bogen von der gemeinsamen Kindheit zum auf verschiedene Weise erreichten (hohen) Alter überspannt. Schwester ermutigend eigensinnig, musikverstrickt und lebensangestachelt. Der Begleitgang zum Bahnhof. Nächste Station Baden, das Tochterhaus, die andere »Heimat«. Leonid und Xenia. Danach Darmstadt. Der wunderbare
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