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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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habe ich in dem frühesten Agenda-Ordner die Passagen über das Heranwachsen, das Familienunglück, was ist die Last, was ist der Packen, wiedergelesen sowie Elisabeth Plahutniks dokumentarische Porträtskizzen über meine Person mit 42 Jahren, nebst Interpretation dahingehend, daß mein selbstbewußtes Draufgänger- und Charmiererwesen eine Versteckfigur sei zum Schutz der frühkindlichen Verletzungen, die mich geprägt haben. Skizze und Interpretation sind von treffsicherem Einfühlungsdenken geprägt und prima formuliert.
    Für mich der Ausgangspunkt in diesem Zusammenhang: der schnoddrige kalte Wegwerf-Ton im neuen Text, der kaltschnäuzig mit der Problematisierung der eigenen Personalien beginnt und das Ausreisen nach Kalabrien (als Eintritt in ein selbstgewähltes Erwachsenenleben) zum Hintergrund hat – immer in der Hoffnung, auf die Maria-Story einlenken zu können. Dieser Ton ist von einer komischen Kälte, eigentlich Gefühlslosigkeit, er gehört zur »Versteckfigur«. Dieser junge Mensch ist ohne Anhang und Zugehörigkeit, absolut allein und läßt auch schon ein bißchen die Tendenz zur Selbstauslöschung durchscheinen. Lese ich diese Allüre vor dem Hintergrund der im Ordner zur Sprache kommenden frühkindlichen Belastung, dann wird Elisabeths Vermutung evident. Die frühkindliche Verfesselung in das nicht zu bewältigende, aus schreiender Verunsicherung und vereinsamender Demütigung herrührende Unglück setzt die Introspektion, den fast schon Überlebens-Drang nach innerer Ausbalancierung in Gang und damit das Autistische, das eben auch die Verhinderung eines freien Erzählens, der Geschichte (keine Geschichte, kein Passbild, keine Personalien, keine Entwicklung, keine Handlung! etc.) bewirkt.
    Ja, das spätere Autofiktionäre bis zum Skandal hat da seinen Ursprung. Und der Klebstoff der nach innen gehenden grüblerischen bis sezierenden Ausrichtung sind eben Verletzung und Preisgegebensein. Und um das zu verbergen, wäre die Versteckfigur meines Icherzählers entstanden, von der Elisabeth meint, sie habe so wenig mit meiner Person zu tun, wenn sie auch nur von dieser Person zu handeln vorgebe. Die Versteckfigur ist absolut autonom (wie es das ganz kleine Kind ohne elterliche Hilfe zu sein gezwungen war). Das Unglück ist die weiße Seite, die leer bleibt; in der Forelle , sagt Doris Krockauer, wird das Unglück, der eigentliche Ausgangspunkt aller meiner literarischen Vorstöße, nicht nur Ausgangspunkt, sondern Quelle und Motor, verschwiegen. Wieder eine Versteckfigur, ein schnoddriger, erbarmungsloser, wenn insgeheim auch um Erbarmen vielleicht geradezu bettelnder Held, ins Leben geschickt oder geworfen, mutterseelenallein, von vornherein desillusioniert, wenn auch sensitiv, Taugenichts und Selbstmörder in der Anlage. Und hier fließt eben auch der Walsersche und Lermontowsche Refuznik ein, Bildung und Karriere abhold und abgeneigt und wohl im tiefsten liebesunfähig.
     
    Die entsprechenden »Forschungen« über das frühkindliche Verhängnis habe ich vor dem Wal betrieben, unter anderem in Montmardelin. Sind meine Helden Poseure? Sie sind es aus Fälschungstendenzen? Sie können nicht akzeptieren und nicht verkraften, was sie an Personalien mitbringen oder aufgebürdet bekommen haben. Sie sind geschädigt und gleiten in den Umriß eines hochmütigen Weltverächters und Lebensverneiners, wobei sie aus dieser Position heraus dennoch allerhand (sprachlich sensitiv) an sich zu bringen, zu erfinden und sogar zu verherrlichen vermögen. Aber die innere Kältedistanz wird nie gebrochen.

    30. Juni 2008, Paris
     
    Vom Elsaß zurück nach Baden und anderntags weiter nach Bern. In Bern wie in Zürich hat man den Eindruck von nie endenden Ferienaufenthaltsorten und -szenarien. See oder Aarebad, es ist, wie ich immer dachte, wie Lebenspielen, nicht wie Leben und Lebenskampf. Freiheit als ewige Freizeit, totalversichert und ultrakomfortabel. Es ist das sonnige Aufgeräumte, es ist die Präsenz der erholungsfreudigen Touristen mit ihrem neugierigen Blick auf das Gelingen des schweizerischen Systems. Es ist das Spielwarenhafte der schönkonservierten Bilderbuchaspekte der Städte und Städtchen. Wenn ich aus der Schweiz kommend ins Pariser Leben tauche, empfinde ich die Wohltaten des wunderbaren, unerforschlichen Gewimmels von Erden- und Erdgeschoßleben, das Gerüchebad, das ermutigend Unvollkommene Gärende Tapfere Poetische: Lebenswerte, den endlosen Film oder Roman im Kulissenschatten einstiger

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