Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
genau wiedergeben, einfangen, jedoch gleichzeitig auf intim anrührende Weise verinbildlichen, fast wie ein Signet; das beflaggte Bürgermeisterhaus. Übrigens ist in der Nähe ein Denkmal und das Museum Daubigny. Gehört diese Wallfahrt auch zu den Quellenbesuchen dieses Jahres, angefangen mit Riga, fortgesetzt mit Rom (Schweizer Institut) und eben jetzt München, Universität, wo ich 1952 studierte? Ja, ich bin eben erst aus München zurück, habe den Vortrag, den ich in der Nacht vor der Abreise fertiggestellt und unter großem Applaus gehalten habe: An der Fremde schreiben lautet das Thema, unter Schmerzen oder wie bei jugendlichen Gelegenheiten (Zürcher Kritiker-Periode) fast wie eine Examensarbeit mir abgepreßt. Sonst geschah ja nicht eben viel in diesem Jahr, immerhin: ein Statement zu Friedrich Kuhn für den Katalog, auch er gehört zu den Quellen und wird kommenden Monat im Zürcher Kunsthaus wie durch ein Wunder Auferstehung feiern.
In Freiburg im Breisgau vier Tage am »Literaturgespräch« teilgenommen und feststellen können, wie sehr mein Programm vom heute Geläufigen abweicht; es waren in der Überzahl Autoren der mittleren Generation anwesend, die alle mit erstaunlich weitläufigen, zeitgeschichtlich nicht nur gewürzten, sondern verschichteten und insofern aktualisierten Erzählfiktionen aufwarteten, alle erfolgreich und preisebeladen, alle auch marktorientierte Publikumsbelieferer, Aktualitätenbemeisterer. Stelle fest, wie sehr ich dagegen schon fast publikumsabgewandt arbeite, weiß der Himmel, wenig erzählerisch, ausschließlich künstlerisch orientiert und natürlich den Weg und das Selbst als einzige Orientierungshilfe anvisierend, hier die – publikumsmäßige – Beschränkung. Ich kam mir wahrlich wie der Außenseiter dieser Literaten vor, nicht dazugehörig sozusagen, ich mit meinem Sonderprogramm, das mir dennoch einen unverkennbaren Rang verschafft hat, ich bin, wenn auch rätselhaft, eine literarische Marke. Nun, es war fast wie ein Schock, das Fremdstehen, zudem war ich der Älteste, der weitaus Älteste. Ein Schock.
17. November 2008, Paris
Was mich in den romanischen Dorfkirchen in der Chiemseegegend mit den vor lauter Restauration fast blatternnarbig oder auch sarkophagisch anmutenden Fresken (amputierten, verbleichenden Resten und Spuren von Malereien) beschäftigte, ist die Totale von Glaubenswelt. Das ganze Programm ausgelegtes Bibelwort, Heilsgeschehen, stilisiert bis ins Ornamenthafte, auch in den Faltenwürfen überaus pompös im Unterschied zur Körperlichkeit, ein in Faltenwürfen gestanzter Text. Christophorus monumental, Dreifaltigkeit, Apostel, Mariä Verkündigung etc. Das Gotteshaus mit Glaubensartikeln vollgestopft, aber damals im Frühmittelalter war es nicht Verzierung, sondern unmittelbare Heiligengegenwart, unmittelbare Heiligkeit, tatsächliches Gebot. Und nichts daneben, was aus dem Leben und Alltag vermerkenswert sein mochte, man stand in diesen ländlichen Gotteshäusern wahr und wirklich den Glaubenstatsachen der Religion gegenüber, sowohl auf einschüchternde gebietende wie heilsverkündende Weise. Von sonstigem Menschenleben oder menschenwürdigem Leben keine Spur. Und sich vorzustellen, daß die von jener kleinen Christussekte im römischen Reich behaupteten und vermachten Evangelien diese Macht entwickelten und über Jahrhunderte ausüben konnten, mit Schwert und Kreuzzügen und Folter ausgeübte Macht ohne Alternative. Und die Inbrunst des Glaubens und der Gläubigen.
24. November 2008, Paris
Seit Freiburg mit Marie-Luise Scherer in Kontakt. Habe gleich ihr hinter allerlei Konfusion und Unabhängigkeitsbenehmen verstecktes Persönlichkeitsformat entdeckt. Und jetzt beim Anlesen die schriftstellerische Klasse. Wahre Geschichten aus dem Alltag, als poetische (Riesen-)Reportagen im Spiegel , dann in Enzensbergers Reihe »Die andere Bibliothek« bei Eichborn erschienen. Lebt angeblich allein mit ihrem Hund auf dem Lande, in einem Weiler namens Damnatz, die nächste Stadt Lüneburg oder Celle, kenne ich. Sie stammt aus Saarbrücken.
Jetzt nur soviel: Reportagen in dem Sinne, als alles bis auf die Namen, Straßen, Begebenheiten aufs genaueste benannt und also wohl recherchiert ist (Detektivarbeit, würde man denken) und mit einem unwahrscheinlichen Sprachgebiß nicht nur gepackt, sondern vorgeführt, hinreißend hingestellt ist. Der Blickwinkel so unerbittlich, daß er in Liebe umschlägt. Woher die sonst nirgendwo gelesene intime
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