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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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und die Ställe
     gepflegt hätte. Vorgestern sei der Alteigentümer, ein Wessi, erschienen, habe alles inspiziert, Eigenbedarf für die Tochter
     angemeldet und ihm die Kündigung – er sagt nicht Kündigung, sondern Vertreibung – für den 1. Januar 1996 angedroht …
    Der Bürochef vom BDV heißt Heinz Himmel, ist 62 und war früher in einem Meininger Baubetrieb beschäftigt. »Damals war ich
     ein Bauarbeiter wie jeder andere auch, vom Vertrieben-worden-Sein durfte man kein Wort sagen.« Heute sei er endlich auch ein
     anerkannter Vertriebener. 2.136 Mitglieder im Kreis. Die 4.000 DM Entschädigung wären ein Anfang. Nun müsse man um das Recht
     auf die Heimat, die Häuser, Felder und Wiesen im Osten kämpfen.
    Eine alte Frau bringt eine Liste des Inventars ihres Hauses bei Königsberg, in dem jetzt die Russen wohnen. »Meine Kinder
     waren dort, haben sogar den alten Kachelofen fotografiert.« Herr Himmel macht ihr Mut.
    »Die Vertreiberstaaten wollen in die EU, aber bevor das geschieht, müssen die uns endlich erst alles zurückgeben.« Später
     erläutert er mir, dass die Landsmannschaften für ihre Mitglieder den Kündigungsschutz in der BRD-Verfassung festschreiben
     lassen wollen. »Nur so sind wir davor geschützt, dass nach 50 Jahren westdeutsche Alteigentümer kommen und unsereinen aus
     dem mittlerweile eigenen Haus jagen.« Der ehemalige Meininger Bauarbeiter Kurt Himmel stammt aus Baltenburg bei Neu-Stettin.
     Den polnischen Ortsnamen kennt er nicht.
    Die einzige glitzernde, neu aufgesetzte Krone im lückenhaft sanierten Gebiss der Neu-Ulmer ist die Hypobank. Dort treffe ich
     den für mich ungewöhnlichsten Banker, den 31-jährigen, trotz Schlips wie ein großer Junge aussehenden Michael Kraus. Er wollte
     zu DDR-Zeiten Kinderzahnarzt werden. Doch während des Studiums vermasselte der angehende Doktor, wie er mirerzählt, die Prüfung im Fach »Politische Ökonomie des Kapitalismus«. Er schmiss das Studium, beschäftigte sich mit Volkskunst
     und nach 1989 als Autodidakt mit dem kapitalistischen Bankwesen. Das tat er so gut, dass die Hypobank dem Seiteneinsteiger
     im vergangenen Jahr auf einen der führenden Posten der Meininger Bank setzte, wo er sich mit den 14 Angestellten gegen die
     Konkurrenz der übrigen 17 (!) in Meiningen ansässigen Banken durchsetzen soll. »Wir müssen vor allem Vertrauen gewinnen und
     die Kunden nicht mit Schnäppchen, sondern durch Fairness und ehrliche Angebote überzeugen.« Ich nenne ihn einen Idealisten
     Er lacht und sagt: »Natürlich ein Idealist, schließlich bin ich im Fach Politische Ökonomie des Kapitalismus durchgefallen.«
    Am späten Nachmittag sitze ich gegenüber der Hypobank beim Fahrschullehrer Gumpert und warte mit ihm auf neue Schüler. Heute
     ist Anmeldetag. Wir haben viel Zeit zum Plaudern. Der kleine, oft still in sich hineinlächelnde Mann hat Lokschlosser gelernt.
     Später Arbeit in einer Kfz-Werkstatt. Studium an der Ingenieurschule für Verkehrswesen. Dann Kontrolleur bei der sogenannten
     Arbeiter-und-Bauern-Inspektion in Suhl.
    Bis 1989 kontrollierte er im Auftrag der SED auch Amtsmissbrauch, Schwarzbauten, Materialschieberei. Und 1990 kontrollierte
     er ein halbes Jahr lang seine früheren Auftraggeber, die leitenden Genossen der Partei, wegen – Amtsmissbrauch, Schwarzbauten,
     Materialschieberei. Allerdings nur bis zum Tag der Deutschen Einheit. »Im neuen Deutschland braucht niemand eine Arbeiter-und-Bauern-Inspektion.«
     Und Gumpert, zu alt für einen neuen Job und zu jung für einen Rentner, beantragteeine Gewerbeerlaubnis für Fuhrunternehmen und Fahrschule. »Erst wollte ich ein Autohaus bauen, 5.000 Quadratmeter Fläche im
     Gewerbegebiet kaufen. Daraus wurde nichts. Später ließ ich mir Aktien für Schweinehäute und Kaffee aufschwatzen.« Die sind
     inzwischen wertlos. »Mittlerweile habe ich begriffen: In dieser Gesellschaft muss man entweder das ganz große Geld machen
     oder mit dem kleinen Geld, das man durch ehrliche Arbeit verdient, zufrieden sein. So ein bisschen ehrlich und ein bisschen
     bescheißen bringt auf Dauer nichts.«
    Nach 90 Minuten kommt heute der erste und einzige neue Fahrschüler. »Das ist der Pillenknick« sagt der Fahrlehrer und lächelt.
     »Wenn erst der Einheitsknick kommt, stört mich nichts mehr.«
    Die Neu-Ulmer weiter in Richtung Westen. Ich latsche mit einer Gruppe bayerischer Touristen. Vor einem abgesperrten Haus bleiben
     sie stehen. Gelber Rainfarn und kleine Lärchen umschließen

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