Urlaub fuer rote Engel
»Ernst Thälmann. 1886–1944«. Sein Kopf ist abmontiert. Aber er liegt noch im Meininger Museum.
Nun also doch zurück zur SED-Kreisleitung (Neu-Ulmer Nr. 6) und dem Stasi-Gebäude (Nr. 5). Die ehemalige Parteizentrale, aus
mächtigen Sandsteinblöcken gemauert und einer Trutzburg nicht unähnlich, war in den dreißiger Jahren das Logenhaus der Freimaurer.
Als die während der Nazizeit verboten wurden, quartierte sich hier die NSDAP ein. Und als die NSDAP verboten wurde die SED:
Heute beherbergt das Haus unter anderen die Grünen, die PDS (deren Fraktionsvorsitzender im Stadtparlament, der Theaterhistoriker
Volker Kern, schlug bei den letzten Kommunalwahlen die Bürgermeisterkandidaten von CDU und SPD und verlor erst in der Stichwahl
gegen den amtierenden Bürgermeister), Versicherungen, Krankenkassen. Und das »Meininger Tageblatt«.
Diese Meininger Traditionszeitung (1864 bis 1933) gab Siegfried Herzog, ehemaliger Redakteur der führenden SED-Parteizeitung
»Freies Wort«, im Frühling 1990 als demokratisches Gegengewicht zur Parteizeitung neu heraus. Damals war es eine der vielen
Aufbruchzeitungen. Inzwischen ist das MT die einzige Neugründung aus der Wendezeit, die in Meiningen überlebt hat. (In Südthüringen
erschienen zu DDR-Zeiten mehr regionale Tageszeitungen als heute.) »Nun haben wir gegenüber dem übermächtigen ›Freien Wort‹
so etwas wie einen beschränkten Bestandsschutz, uns braucht man als Feigenblattfür die angebliche neue demokratische Presselandschaft hierzulande, ansonsten stände das alte und neue Monopolblatt allein
und nackt da«, sagt Herzog und grient. Als sie die Zeitung 1990 in der BRD drucken ließen, benötigten sie für ihre Manuskripte
rauswärts noch eine Ausfuhrgenehmigung (wegen nichtgenehmigter Ausfuhr von Manuskripten hatten DDR-Richter seinerzeit Heym
und Havemann verurteilt) und reinwärts eine Einfuhrgenehmigung für das »westliche Druckerzeugnis«. Erinnerungen zum Aufschreiben.
In der Stasi-Zentrale erinnert sich niemand mehr an die Zeit vor fünf Jahren. Selbst die Reinemachefrauen und Pförtner wurden
ausgewechselt. Herr im Hause ist inzwischen das Deutsche Rote Kreuz mit Bergwacht, Rettungsdienst, Kleiderkammer … Ich gehe
in die Kleiderkammer. An der Tür versperrt ein Bohlenbrett den Zutritt. Neben dem Brett ein Pappkarton mit Namenskarteikarten.
Eine ungeheuer dick, freundlich und mütterlich aussehende Frau mustert mich lange und will mir dann eine Eintrittskarteikarte
für Bedürftige ausfüllen. (Keine Peinlichkeit, wir lachen später beide darüber.) Von Pelzmänteln über Jeans und Schirme bis
zu Nachttöpfen ist hier alles fein säuberlich in Regalen und auf Bügeln geordnet.
Ein hagerer, bleichgesichtiger Mann mit langen Haaren stapelt für sich dicke Socken und lange Unterhosen. Gerd Holzhauer ist
45, hat 25 Jahre lang als einer der 120 Gleisbauer bei der Reichsbahn in Meiningen gearbeitet. Seit 5 Jahren arbeitslos. Von
120 blieben 7. Ich frage nach seiner Familie.
»Wäre ich für eine Familie verantwortlich, hätte ich mir schon den Strick genommen.«
Und Alkohol?
»Nicht einen Tropfen!«
Eine Mutter mit zwei Kindern kommt. Die Kinder probieren Winteranoraks. Sie bittet, dass ich ihren Namen nicht nenne. »In
der Schulklasse darf niemand erfahren, woher unsere Mädchen die Anoraks kriegen.«
Christel Katzenberger, die Kammerleiterin, hat 27 Jahre als DRK-Unfallhelferin am Grenzübergang Henneberg gearbeitet. Erste
Hilfe bei Kollaps. Auch Infarkte nach Grenzkontrollen. »Am 3. Oktober 90 habe ich gelacht und geheult. Gelacht, weil es nun
keine Grenze mehr gab, und geheult, weil ich damit meine Arbeit los war.« Später erhielt sie die ABM-Stelle in der Kleiderkammer.
Bevor ich gehe, erzählt sie, dass ihr seinerzeit an der Grenze BRD-Bürger manchmal Säcke mit getragenen Sachen in die Hand
drücken wollten. »Für ihre Kleiderkammern, sagten die damals. Ich habe die Säcke nicht angenommen, erstens weil wir ›vom Klassenfeind‹
nichts annehmen durften und zweitens kannte ich keine Kleiderkammer, die gab es hier nicht.« Zweimal in der Woche öffnet sie
nun ihre Kammer. Und hat immer fünf oder sechs Neuanmeldungen in dem Pappkarton-Karteikasten.
Im Hauptgebäude der Stasi sitzt jetzt auch der »Bund der Vertriebenen«. Andrang vor der Tür. Während wir warten, erzählt ein
alter Mann aus dem Dorf Nordheim, dass er dort seit über 40 Jahren ein kleines Häuschen besäße, den Garten
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