Urlaub fuer rote Engel
Autoverkehr auf der Insel
versprachen, habe ich mich gewehrt.«
Die CDU-Unternehmer im Gemeinderat verlangten seine Abwahl. Da berief sich der parteilose Westbürgermeister auf das Ostmotto:
»Wir sind das Volk.« Zwar kamen keine 400 mehr, aber fast 200 waren es immer noch. Und die sagten: Der Wessi soll bleiben!
Inzwischen hat Athing von den drei Bibliotheken auf der Insel zwei geschlossen. Damit eine überleben kann. Er hat Kindergärtnerinnen
entlassen und die übrigen verpflichtet, im 14-Tage-Turnus aus der Chemiestadt Weißenfels anreisende Kinder mit zu betreuen.
Damit der Kindergarten vorerst überleben kann.
Das hat der Realist Athing veranlasst. Der Utopist Athing träumt im Moment davon, dass die, die auf der Insel leben, auch
übermorgen noch von ihr und auf ihr leben können. »Denn sein eigenes Land kann man nur einmal verkaufen. Und bei 1.000 DM
Grundstückspreisen werden auf der Insel nicht mehr die Einheimischen für ihre Kinder bauen können.«
Doch es gibt schon Familien, die demnächst aus ihren Wohnungen raus- und damit von der Insel runtermüssen, weil die Alteigentümer
zurückkommen. Auch deshalb haben die Hiddenseer eine Gesellschaft gegründet, die es so noch nirgends gibt: eine kommunale
Wohnungsbaugesellschaft. Ohne bares Geld, nur mit der ersten Hoffnung auf die Rückführung kommunaler Flächen und der zweiten
Hoffnung, dass sie trotz ihrer über der förderungswürdigen Preisgrenze liegenden Bausumme – auf der Insel ist es wegen des
Wassertransports viel teurer als auf dem Land – eine Stützung für den sozialen Wohnungsbau erhalten. Mindestens die Hälfte
der 30 Wohnungen sollen an Familien von der Insel vermietet werden. »Damit die hier leben können, die schon immer hier gelebt haben … Zum Aufsichtsratsvorsitzenden unserer Wohnungsbaugesellschaft
wurde Manfred Domrös gewählt.«
»Der Pfarrer?«, frage ich.
»Ja, unser Inselpfarrer ist der Aufsichtsratsvorsitzende«, sagt der Bürgermeister.
Abends sitze ich wieder am Hafen. Die Fischer schimpfen auf die Regierung und über die zu niedrigen Heringspreise. Die Pferdekutscher
monieren den Plan von Athing, künftig alle Waren vom Hafen aus mit Pferdefuhrwerken über die Insel zu transportieren. »Da
kutschiere ich lieber die Touristen. Die klettern von alleine auf den Wagen. Die Kisten muss ich auf- und abladen.«
Und die betrunkenen Tagesausflügler, die die letzte Fähre verpasst haben, freuen sich, dass sie mit dem Wassertaxi noch vor
der Dunkelheit von der Insel herunterkommen.
Straßengeschichten
Die Neu-Ulmer im thüringischen Meiningen ist keine Straße zum Flanieren. Zwar wird sie von klassizistischen und neoromantischen
Villen gesäumt, doch die sind längst von Karies zerfressen, und dazwischen erinnert ein Dutzend größerer und kleiner Lücken
an die Extraktion vor 50 Jahren, als amerikanische Bomben in der Theaterstadt detonierten. Zum Schönheitsmakel kommen noch
der Lärm und der Gestank von rund 30.000 Autos, die sich seit der Wende über diesen Teil der B19 täglich in Richtung Westen
durch die 25.000 Einwohner zählende ehemalige herzogliche Residenzstadt quälen.
Alte Meininger behaupten, dass die Neu-Ulmer zu Kriegszeiten »Adolf-Hitler-Straße« geheißen habe. Doch dabei war nur der Wunsch
der Vater des Gedankens, denn offiziell ist sie niemals nach diesem Meininger Ehrenbürger benannt worden. Im Mittelalter Stadtmauer
und Stadtgraben, danach »Halbe-Stadt-Straße« und zur Jahrhundertwende, dem deutschen Zeitgeist huldigend, »Bismarck-Straße«.
Nach der ersten Wende »Ernst-Thälmann-Straße« und nach der zweiten Wende, die Einheit und die westdeutsche Partnerstadt preisend,
»Neu-Ulmer Straße«. Und seitdem?
Am Bahnhof erkundige ich mich nach dem Weg. »Die Neu-Ulmer? Sie laufen quer durch den Englischen Garten. Und am ehemaligen
Wohnhaus von Max Reger beginnt sie, die … Thälmann-Straße.« Ein schwarzes Marmorschild auf grauem Putz. Hier wohnte der Komponist
von 1911 bis 1915. Drinnen buntbesprühte Wände undPhantasieplastiken, eine Mischung zwischen Geisterbahn und Casino. Junge Leute hocken vor Videogeräten, Computern und Spielautomaten.
Der Jugendtreff »Kaff«. Im Obergeschoss sitzen die zwei erwachsenen Verantwortlichen für das »Kaff«. Sie sind vom Landratsamt
bestallt und als ABM bezahlt. Aber meine Frage nach der Arbeit im »Kaff« beantworten sie nicht. »Wir dürfen mit Ihnen nur
reden, wenn Sie zuvor beim
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