Urlaub fuer rote Engel
es wie eine Dornenhecke. Gras wächst auf den Fensterbänken. Am
Giebel steht in großen Lettern: Volkslichtspiele.
Fotoapparate klicken, Videokameras surren. Offene Entrüstung dann am letzten Haus der Straße, der Nr. 47. Zerschlagene Fenster,
aufgefrorene Wasserleitungen, heruntergespülte Tapeten … Die Bayern sagen: »Dös is die Zone!« und fluchen auf die Altlasten
des Sozialismus. Allerdings sind sowohl das ehemalige Stofflager in der Nr. A7 als auch das Kino in der Neu-Ulmer schon Neulasten
der Marktwirtschaft. Denn vor 5 Jahren waren im Lager noch Fenster, und im Kino spielte man Softpornos und US-Thriller. Dann
verkaufte die Treuhand, und dieKäufer ließen Gras und Bäume wachsen und hofften, dass in Meiningen die Grundstückspreise weiter steigen.
Unverfälschte DDR-Wohnungsaltlasten hätten die Touristen im Haus dazwischen, in der 43, gefunden. Bröckelnder Putz, morsche
Fenster, Gerümpel im Flur, an den Stromzählern noch die Aufschrift »Volkseigentum«. An einer Wohnung wird mir geöffnet. Eine
junge schwarzhaarige Frau. Kindergeplärr. Gebrochenes Deutsch. Olena stammt aus der Ukraine. Ihr Mann, ein 50 Jahre alter
Meininger Müllfahrer, hat sie sich vor zwei Jahren, »durch eine Vermittlung Ostfrauen nach Deutschland« geholt und geheiratet
und ihr gleich ein Baby gemacht. Aber all das zähle nicht. Um wenigstens eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, muss sie 5 Jahre
verheiratet sein. Aber sie wisse nicht, ob sie dann in Meiningen noch Arbeit annehmen dürfe. Auf dem Markt sei sie im Mai
als »Zigeunerin, die den deutschen Frauen die Arbeit klaut«, beschimpft worden.
An der Tür von Superindentent Dr. Victor, Neu-Ulmer 25b, hängt der Spruch: »Menschen sind willkommen. Deutsche und Ausländer.«
Im Herbst 89 hatte der Geistliche die Kirchentore für das Volk geöffnet und die Dienstagsdemos in Meiningen organisiert. Er
sei damals schon für die Einheit gewesen, hätte sich allerdings keine Illusionen über das neue System gemacht. Trotzdem wäre
er heute enttäuscht. Zum einen über die Politiker, die keine Perspektiven für die Zukunft erarbeiten oder wenigstens erahnen
könnten. Und über die Bedeutungslosigkeit, in die seine Kirche nach der Euphorie von 1989 leider zurückgefallen sei. »Mit
der D-Mark erfüllen sichdie Leute heute täglich jene Wünsche, die sie 89 nur unter dem Schutz des Kirchendaches einklagen konnten.« Und mancher, der
vor fünf Jahren »Hosianna!« geschrien hätte, rufe heute »Kreuziget ihn!«. Er sei pessimistisch geworden.
Als es dunkel wird, gehe ich noch einmal zu Regers Wohnhaus. Disko im »Kaff«. Frage vor der Tür stehende junge Leute nach
ihren Idealen. »Auf keinen Fall wie mein Alter, dieser Held der Arbeit, 40 Jahre umsonst schuften müssen.« – »Per Anhalter
um die Welt« – »Die Nazischweine verkloppen.« – »Ein Star bei Bayern München werden.« – »Endlich eine Lehrstelle finden.«
Aber diese Antworten muss ich schon nicht mehr aufschreiben. Denn das »Kaff« gehört ja postalisch nicht zur Neu-Ulmer. Das
ist schon die Meininger Marienstraße 6.
Ria S. (43): »Ich sprang nicht … Ich heulte nur«
Meine Begegnung mit Ria S. war zufällig. Ich hatte im Block Allendestraße 24 des Salzunger Neubaugebiets gefragt, wie viele
der Hausbewohner arbeitslos sind. »Etwa die Hälfte«, sagte der Hausmeister. Als ich wissen wollte, mit welchen Arbeitslosen
ich reden könnte, nannte er keinen Namen. Er warnte mich lediglich davor, hinauf in den obersten Stock, zu Ria S., zu gehen.
»Asozial!«, knurrte er.
Ich ging hinauf. An ihrem Briefkasten hing ein Aufkleber, der das Einstecken von Reklame untersagte. Und mit Handschrift darunter:
»Schmutz und Abfall einwerfen bei Strafe verboten.« An ihrer Wohnungstür ein Schild: »Vertretern wird nicht geöffnet«.
Ria S. ist mager. Tiefliegende Augen. Dunkelblondes strähniges Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Keine Kosmetik. Sie
hat vier Kinder. Die älteste Tochter schon aus dem Haus, die andere, 18, wohnt mit dem Freund bei ihr. Dazu der jüngste Sohn,
zwei Jahre alt, und der ältere, der am Tag zuvor, am Montag, den 20. September, seinen achten Geburtstag feierte.
»Kinder waren zur Feier keine eingeladen, von mir bekam er zwei Strumpfhosen und Schokolade, von seinem Vater, der gibt manchmal
Pakete beim Jugendamt ab, Hemden und auch Schokolade. Im Januar 91 musste der Vater auf Weisung des Jugendamtes hier ausziehen.
Er hat nicht nur mich
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