Urlaub fuer rote Engel
Landratsamt eine Genehmigung eingeholt haben.« Das sei eine strenge Anweisung der neuen Obrigkeit.
»Bei Nichtbefolgen erhalten wir eine Abmahnung.«
Sie meinen es ernst. Ich gehe. Die Briefträgerin klärt mich auf, dass Regers Wohnhaus zwar auf der Neu-Ulmer steht, aber postalisch
nicht zu ihr gehört, und zeigt mir die früher wichtigsten Gebäude der Straße: linker Hand die Stasi-Zentrale, rechter Hand
die SED-Kreisleitung.
Mir ist kalt. Ich habe weder Lust auf Stasi noch auf Partei, sondern auf eine warme Gaststätte. Die gibt es nicht in der Neu-Ulmer.
Nur den »Getränkestützpunkt H. Helpert«. Dort sitzen alte und junge Männer schon um halb zehn Uhr vormittags bei Bier und
Schnaps. Sie erzählen mir ohne Genehmigung über die Neu-Ulmer.
Also, das »Kaff« wäre früher das Pionierhaus gewesen. Tanzgruppen, Singebewegung und so. Nach der Wende hätte sich der Erbe
eines Alteigentümers gemeldet, ein gewisser Laub, einer vom Meininger Theater, bisschen verquer, aber als das Landratsamt
einen Treff für die Jugend brauchte, hätte der sein Regerhaus wieder verkauft. Wollte sich vom Erlös ein kleines Häuschen
auf dem Land bauen lassen, aber dafür reichte das Geldnicht. »So blöd kann nur ein Ossi sein«, sagt der arbeitslose Gärtner Bernd Schirmer, der bei mir am Tisch sitzt und mit sechs
anderen Kollegen entlassen wurde, derweil der Landschaftspflegebetrieb die billigen, vom Arbeitsamt geschickten und geförderten
Arbeiter behielt. Danach minutenlanger Streit, ob Ossis naiv-blöd und Wessis gerissen-klug seien. So lange, bis der Helmut,
der Wirt, nicht gerade ein Riese von Gestalt, seine Lederschürze fester bindet und erzählt, dass er zum Beispiel schon zur
Wende begriffen habe, dass es von nun an abwärtsgehen würde mit den Ostbetrieben. Und da hätte er als Schmied im Stahlgabelwerk
gekündigt, hier den Keller ausgebaut, die Wirtsschürze umgebunden. Der halbe Liter koste noch 2,30 und dazu gratis die Gespräche
untereinander, Tipps, wie die Formulare für die Ämter ausgefüllt werden müssten. Die Kneipe ernähre ihn noch bis zur Rente.
»Aber die Kollegen aus dem Stahlgabelwerk, die wie ich über 50 sind und inzwischen arbeitslos, die sind blöd dran. Es gibt
hüben wie drüben solche und solche.«
»Außerdem«, schreit einer dazwischen, »außerdem reden uns die Politiker den Unterschied zwischen Ossis und Wessis immer wieder
ein, damit wir den eigentlichen Unterschied in Deutschland vergessen, nämlich den zwischen verdammt reichen großen Leuten
und ziemlich ärmlich lebenden kleinen Leuten. Da kam mal einer aus Bayern …«
Ich höre mir die Geschichte nicht bis zu Ende an, trinke aus, aber als ich zahlen will, legt einer von den Arbeitslosen 5
DM auf den Tisch. »Lass gut sein, Kumpel«, sagt er, »es war schön, mit dir zu reden.« Und zahlt für mich.
Weiter auf der linken Seite der Neu-Ulmer. Das frühere Haus des Handwerks. Heute vor allem ein Domizil für Rechtsanwälte.
Und zu ebener Erde: »Immobilienverwaltungsgesellschaft«. Hinter einer Glastür wieseln junge Angestellte. Einen Lehrling mit
kindlichem Gesicht frage ich nach dem Geschäftsführer. Muss mich entschuldigen, denn der vermutliche Lehrling ist kein Lehrling,
sondern der Geschäftsführer. Thomas Gebhardt, 28, aufgewachsen im fünf Kilometer entfernten Dörfchen Untermaßfeld.
In Dresden Elektrotechnik studiert, keinen Job in der Branche, deshalb Versicherungsagent und 1990 Firmengründer. »Ich habe
damals so viel an den Versicherungsabschlüssen verdient – die Westfirmen wollten ja hier unbedingt auf den Markt –, dass ich
diese Büroräume im Oktober 91 ohne Kredite und ohne Westpartner anmieten konnte.« Inzwischen, obwohl die Zeit des Blindkaufens
von DDR-Immobilien vorbei sei, beschäftige er fünf Leute, werde demnächst ein Haus auf dem Marktplatz eröffnen …
Ich sage: »Mit 28 schon ein echter Karrieretyp!«
Er widerspricht: »Unsere Kinder, meine Frau arbeitet auch, sind 1990 und 1993 geboren, das passt doch nicht zur Karriereplanung!«
Ich frage den Immobilienhändler nach der Moral, denn als Häusleaufkäufer könne man ja keine Rücksicht auf Tränen nehmen.
»Aber wenigstens mitfühlen mit den Leuten.«
»Wie lange noch?«
»Kommen Sie in 5 Jahren wieder und fragen mich danach.«
Gegenüber von seinem Büro, in einem kleinen Park, spießen leere Fahnenstangen in den Himmel. Davor steht ein Steinobelisk
des früheren Namenspatrons.
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