Urlaub fuer rote Engel
Fragen, vielleicht gleich
jetzt …
»Nein«, sagt sie, »mein Mann kommt jetzt zum Mittagessen von der Arbeit.« Sie stutzt, dann entschuldigend: »Es ist fast schon
eine Sünde, mit der schönsten Selbstverständlichkeitzu sagen: ›Er kommt von der Arbeit …‹ Von 800 Steinbachern, die vor 20 Monaten noch eine Stelle hatten, arbeiten heute noch
rund 50. Und eigentlich wäre auch er ohne Arbeit, aber er bekam eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme: mit den anderen Männern
den Friedhof verschönern, die Kirche renovieren …«
Ich frage, ob wir am Sonntag nach dem Gottesdienst miteinander sprechen können. Sie schüttelt den Kopf. »Nach dem Gottesdienst
muss ich in die Küche, der Sonntagsbraten für die Familie, das ist Tradition in Thüringen.«
Wir einigen uns auf heute Nachmittag, aber zum sonntäglichen Gottesdienst sei ich natürlich herzlich eingeladen.
Mit ihrem Mann, der die Gesangsbücher verteilt und das Läutwerk bedient, sind wir genau 13, die am Sonntag in der Kirche sitzen.
Die Pastorin liest die Geschichte, die gleich fünfmal in den Evangelien steht: Jesus speist mit fünf Broten und zwei Fischen
5.000 Hungrige, und als alle satt sind, lässt er die Reste in 12 Körbe sammeln. Nach der Predigt (»er gab dem nach einem neuen
Weg suchenden Volk nicht nur Speise für den Körper, nicht nur Wohlstand, er sorgte sich auch um dessen Geist«) zelebriert
die Pastorin das Abendmahl. Brot vom Leibe Christi und Wein vom Blute Christi. Und dann: »Lasst uns nun gemeinsam beten …«
Erfleht wird die Hilfe für die Kranken und Bedrängten. Mir läuft es kalt den Rücken herunter, als die Pastorin laut und innig
betet: »Herr, wir bitten dich, erbarme dich, erbarme dich unserer Arbeitslosen in Steinbach … erbarme dich …«
Aber das war erst am Sonntag. Am Donnerstag hatte ich, aus Bad Liebenstein kommend, die in einer Kurve versteckte Abfahrt
von der Hauptstraße hinunter in das Tal von Steinbach wie so oft fast übersehen. Hatte gehalten, weil an diesem Abzweig vier
Männer, drei ältere und ein Jugendlicher, den Rasen von einer großen dreieckigen Fläche absteckten und Feldsteine in der Mitte
auftürmten.
Das werde das Eingangssymbol von Steinbach: ein Wegweiser und eine Karte mit Wanderlegende und im Original die schon Jahrhunderte
währende Tradition des Ortes, »eine Bergwerkslore zur Erinnerung« … Und der Junge flucht: »Haben jahrelang gebuddelt, um bis
zur neuen Spatader vorzutreiben, und nun, wo sie endlich dort sind, fluten sie das ganze Bergwerk. Schluss! Aus!« Sven Krug
hatte schon anderthalb Jahre im Bergwerk gelernt, so wie das die Steinbacher seit Jahrhunderten getan haben. »Nun werde ich
weggehen, drüben wieder von vorn anfangen.« »Drüben« ist für ihn Gießen, 100 Kilometer entfernt. Außer der Lore soll noch
das Modell einer alten Steinbacher Messerschleifkote aufgestellt werden.
»Auch zur Erinnerung?«
»Musst du den Keller Gerhard fragen, seine Frau ist die Betriebsratsvorsitzende in der Messerfabrik.«
Der winkt ab. »500 Leute waren im Betrieb, jetzt sind es noch 10.« Er selbst hätte dort als Kraftfahrer gearbeitet. Die anderen
zwei sind um die 50 Jahre alt.
Dieter Prietzel hatte im Nachbarort Schweina in der Plastefabrik eine Stelle. Als der Betrieb dichtmachte, war er lange »drüben«
auf Arbeitssuche. »Entweder ichwar ihnen zu alt oder nicht mobil genug, nicht mal als Lagerarbeiter …«
Leo Hacker, von Beruf Schlosser, arbeitete viele Jahre in einer Zweigstelle des Blinden- und Versehrtenhandwerks, in der die
Blinden und Versehrten Wäscheklammern zusammensetzten. »Vor einigen Monaten wurde investiert, der Stammbetrieb kaufte eine
Maschine, die in einer Schicht so viele Klammern herstellt wie alle Behinderten in einer Woche … seitdem ist alles zu Ende.
Für die Versehrten und für mich.«
Die zwei sind über ABM angestellt. Vorerst bis der Schnee fällt, und dann vielleicht wieder, wenn der Schnee taut.
»Die Zukunftslosen bauen für die Zukunft«, sagt der Schlosser.
Und der Mann aus der Plastefabrik guckt hinauf zum Himmel: »Wir können nur hoffen, dass der Winter spät und der Frühling bald
kommt.«
Ich fahre hinunter ins Tal, vorbei an der großen neuen Halle der Messerfabrik, und halte vor dem alten Betriebsteil mit den
baufälligen verwinkelten Häusern. Hier sitzt noch eine Pförtnerin. Sie sagt, dass niemand von der Betriebsleitung im Haus
sei, aber die Betriebsratsvorsitzende der IG
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