Urlaub fuer rote Engel
Der Dritte arbeitslos in der LPG. Der Vierte lernt Landwirt, aber es ist sinnlos … Das erste Mädchen, Facharbeiter für Transporttechnik,
ist arbeitslos. Das zweite Mädchen hat noch Arbeit, aber im Kali …«
Während wir reden, polkt die 49-jährige Erika Irrgang von verblühten Stiefmütterchen, die sie in einem Pappkarton gesammelt
hat, die Samenkörnchen heraus. »Ich ziehe für das nächste Jahr Pflänzchen daraus. Die Stiefmütterchen-Pflanzen sind so teuer
geworden, und ich brauche viele für die Gräber.«
Die Reichen von Radebeul
Im Nizza von Sachsen, der vor Dresden gelegenen Weinstadt Radebeul, sollen – so schreiben es die Zeitungen – mittlerweile
250 Millionäre in Schlösschen, Burgen und denkmalgeschützten Villen wohnen. Meine Schwierigkeiten, zwei oder drei von ihnen
zu finden, beginnen schon bei der Wahl meines Radebeuler Aussteigebahnhofs. Denn die Stadt, in der 32.000 Menschen leben,
besitzt nicht nur 14 Schulen, 17 Kindertagesstätten, zwei Bibliotheken, zwei Freibäder, drei Sporthallen, eine Schwimmhalle,
ein Theater und 1.200 Baudenkmäler, sondern auch fünf Bahnhöfe: West, Weintraube, Ost, Naundorf und Zitzschewig. Ich entscheide
mich, man kann es immer noch nicht lassen, für Radebeul Ost. Und frage die Fahrkartenverkäuferin dort sofort vorsichtig, wo
ich in Radebeul einen der 250 Millionäre finde.
Sie schaut mich erst sehr von der Seite an. Dann poltert sie los, dass die nicht hier unten zwischen stillgelegten Fabriken
und abbruchreifen ehemaligen Arbeiter- und Tagelöhnerhäusern leben, sondern »oben im Goldstaubviertel! Diese … diese … Soll
ich Ihnen mal sagen, was ich im Monat verdiene?«
Ich will es nicht wissen. Und fahre wegen meiner Pension weiter nach Radebeul West. Der Bahnhof West ist heruntergekommener
als der im Osten. Verkehrte Welt in der Stadt der Millionäre? Im Schaufenster der Allianz-Versicherung nahe dem Bahnhof wird
sie mit einer Plakattafel wieder geradegerückt: »Einem Karies-Bakterium ist es egal, wie viel Sie verdienen!«
Als ich mir schräg gegenüber im Geschenkladen einen Stadtplan kaufe und wiederum nach Millionären frage, erklärt mir die freundliche
Besitzerin die »Topographie des Reichtums« in Radebeul. Trennlinie sei die B 6, die Meißner Straße, die Radebeul kilometerweit
teile. Oberhalb Weinberge und Parks mit ihren Schlösschen, Weingütern, herrschaftlichen Wohnsitzen und früheren Pensionärsvillen.
Unterhalb Eisenbahn, Industrie, Behörden, Wohnhäuser, Geschäfte, Friedhof. Auch Villen wie die von Karl May.
»Doch die Dresdner Reichen, die Pensionäre, die hier schon in den goldenen zwanziger Jahren ihren Lebensabend genießen wollten,
die wohnten oberhalb der Meißner.« Ihr Geschäft liegt unterhalb. »Aber oben, in meinem zweiten Laden, in dem ich Bücher verkaufe,
läuft’s Geschäft auch nicht besser. Wenn jeder dieser angeblichen Millionäre im Monat wenigstens Bücher für 50 Euro kaufen
würde. Lesen die?« Ich weiß es nicht.
Vom prominentesten Bewohner der Weinberge, dem ehemaligen MP Biedenkopf und seiner Frau Ingrid, schreiben die Zeitungen, dass
sie außer Karl-May-Originalbänden auch Storm und Dostojewski im Regal stehen haben. Sie wohnen im teuer renovierten Berghaus
Neufriedstein. Es gehört der Unternehmerfamilie Haub (Tengelmann-Imperium), die nach der Wende in Ostdeutschland unter anderem
mit ihren Supermarktketten wie Obi, Kaiser’s und Plus Millionen Kunden sozusagen zum Nulltarif dazuerhalten hat. In der engen
Plus-Verkaufsstelle in Radebeul-West, unterhalb der Meißner Straße gelegen, frage ich, ob der Millionärssohn Haub schon mal
von seinem Berghaus persönlich hier runtergekommensei und vielleicht für die Verkäuferinnen … Die Geschäftsführerin, die Konservengläser in Regale stapelt, stottert: »Nein
… Ich darf darüber keine Auskunft geben … Anweisung der Plus-Zentrale … Dort können Sie nach dem Besitzer, wie sagten Sie,
heißt er?, fragen.« Ich gehe, ohne mir Käse für das Abendbrot zu kaufen.
Auf dem Weg zur Pension oberhalb der Meißner Straße steht in einer kleinen Gasse ein weißbärtiger Mann auf einer Palette mit
Pflastersteinen. Er sieht aus wie der berühmte Dresdner Kammersänger, der zu DDR-Zeiten (oder erst zur Wende?) für süße Showkoladen
geworben hat und nun auf großflächigen Plakaten für den 20-Zylinder-Bierkasten wirbt. Er reckt die Arme triumphierend in die
Höhe. Eine Frau steht davor und
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