Urlaub fuer rote Engel
bis kurz vor Mitternacht auf, für die Schichtarbeiter, denn fast alle in Steinbach arbeiteten im Drei-Schicht-System.
»Früh kurz vor 6 konnte man vor Bussen und Autos kaum über die Straße. Jetzt ist es um die Zeit so still, als wäre hier jeden
Tag Sonntag … Und statt 800 Liter Bier trinken die Leute bei mir nur noch knapp 100 Liter in der Woche …«, sagt der Wirt.
Das alles sei erst der Anfang, philosophieren die 5 am Stammtisch. Jetzt gäbe es Arbeitslosengeld, zu Hause wäre noch was
zu tun, überhaupt hoffe man, nicht im Stich gelassen zu werden. »Aber wer denkt darüber nach, was in drei, vier Jahren sein
wird. Kaum einer der Großbetriebe im Umkreis von 50 bis 80 Kilometer wird überleben, wohin also mit den Arbeitssuchenden,
den Tausenden 40- bis 50-Jährigen …?«
Auch die Pastorin hat in der Predigt über die Zukunft gesprochen: »Jesus ließ die 5.000 schon in Gruppen lagern, ohne zu wissen,
wie er sie satt machen würde. Er machte die Tischordnung, er machte den Plan für die Menschen, ohne dass er vorher wusste,
wer die Kosten übernimmt …« Und so sorgt sich die Pastorin um ein altes Haus, in dem sie einen Treffpunkt und eine Betätigung
für die arbeitslosen Frauen schaffen will, schreibt Wandergruppen an, damit sie in Steinbach übernachten, macht einen Plan,
an welche Kirchen der Umgebung sie die ABM-Männer im Winter ausborgen kann …
Und auch Doris Keller hat über die Zukunft der Messermacher gesprochen. Ich könnte sie mir heute schonanschauen, denn 20 Beschäftigte im Zweigbetrieb Wiesenthal wären den anderen mehr als um ein Jahr voraus, sie seien schon
im Frühjahr 1990 gekündigt worden.
In Wiesenthal gehe ich ins Gasthaus »Schmalz«, um nach den 20 zu fragen. Der Wirt zeigt auf einen hageren zigarrerauchenden
Mann. »Dem Walter Irrgang seine Frau ist dabei.« Der bringt mich ein Stück, erzählt, dass er 50 Prozent schwerbeschädigt sei,
eine Bohle hätte ihm im Sägewerk die Brust durchbohrt … »Alles kaputt – Milz, Leber, Lunge und Rippen …« Danach hätte er noch
einige Jahre im Sägewerk gearbeitet, schließlich Kündigung … Nein, er wolle nicht jammern, er hätte eine ABM-Stelle bei der
Kommune, für die Frauen wäre es schlimmer.
Die Frau, Erika Irrgang, ist 49. Sie sitzt mit ihrer gleichaltrigen Freundin in der Küche. Ich frage nach den 20 Entlassenen.
»Die 18 Frauen sind noch ohne Arbeit, ein Mann hat eine ABM-Stelle, und einer ist fort auf Montage.«
Sie holt mir die Kündigung, ein abgezogener unpersönlicher Wisch.
»22. 6. 90. Entsprechend dem AGB kündige ich … zum 5. 7. 90. Wir bitten Sie im Interesse des Fortbestehens des Betriebes um Verständnis für diese Maßnahme … F. Betriebsdirektor.«
Sie hätte 13 Jahre mit der Hand Messer entgratet. 1.000 Stück für 12,50 Mark … Aber das alles sei nichts gegen das Schicksal
ihres Mannes.
»Mit dem Sägewerk verheiratet war der Walter. Und dann der schreckliche Unfall. Ein halbes Jahr lang bin ich täglich an die
100 Kilometer nach Suhl ins Krankenhausgefahren, das heißt, Freunde aus dem Dorf haben mich gefahren.«
Sie holt selbstgeschlachtete Wurst, Brot, saure Gurken und kocht Kaffee.
»Nach dem Unglück war er noch ein Jahr zu Hause, dann hat er wieder gearbeitet im Sägewerk, mit diesem schrecklichen Loch
in der Brust … Und dann am 3. 12. 90 kam der Brief vom neuen Sägewerk-Jungunternehmer, der ist gerade 29, der hat noch in die Windeln geschissen, als Walter
dort schon arbeitete. ›Zum 17. 12. 90 gekündigt.‹ Es war das schrecklichste Weihnachten, er hat geheult und immer nur gesagt: ›Wär ich nur beim Unfall gestorben
…‹ Neulich riet mir jemand von drüben: ›Ihr müsst erst mal schaffe lernen!‹ Schaffe lernen? Die Brigitte hier, sechs Kinder,
das Kleinste war drei, und dann den ganzen Tag in der Messerbude … Unser Haus, Stein für Stein haben wir es gebaut … Und das
Sägewerk – es war nur eine Bretterbude, alle die festen Gebäude, die jetzt dort stehen, hat der Walter mit seinen Händen gemauert
… Schauen Sie es sich mal an, wenn Sie durchs Dorf gehen.«
Ich habe es mir angeschaut. Am Eingang hängt ein großes Wahlplakat. Ein lächelnder Vater, der sein lächelndes Kind im Arm
hält. In großer Schrift »Papa, lieben alle Menschen Kinder? Kinderzukunft … CDU«.
Ich frage Brigitte Möller nach ihren sechs Kindern. »Der Älteste im Kali ist arbeitslos. Der Zweite hat Arbeit als Maurer.
Weitere Kostenlose Bücher