Uschi Zietsch
der ihm zuerst eine leidenschaftliche Erwiderung, dann eine Ohrfeige der Magd und zuletzt eine Rüge vom Lordmeister eingebracht hatte. Überrascht erkannte sie, dass nicht einmal Zauberer gewisse Dinge verlernten, und das gefiel ihr außerordentlich.
Bis zum Abend brachten sie ein gutes Stück Wegs hinter sich. Sie mussten sich vorwiegend Richtung Osten halten. Die Stadt Lefrad befand sich ziemlich im Zentrum von Laïmor, zu Fuß etwa zehn Tagesreisen entfernt, wie Kelric schätzte. Bisher schlugen sie sich quer durch die idyllische Wildnis, ohne eine Straße zu kreuzen, aber Kelric war zuversichtlich, dass sich das schon am nächsten Tag ändern würde. Sie konnten noch eine gute Strecke zurücklegen, denn die Tage waren inzwischen lang und warm, sie fühlten sich gut erholt und hatten sich satt gegessen. Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang hob Kelric jedoch das Haupt immer wieder zum Himmel und blickte lauschend umher.
»Was ist?«, fragte die Prinzessin, augenblicklich alarmiert.
Der Zauberer machte eine unbestimmte Handbewegung. »Wir haben Sommer, und es ist zu still. Irgend etwas stimmt hier nicht. Ich höre nicht einmal unseren kleinsten und süßesten Sänger, Lirileia, der nur in den tiefsten Stunden der Nacht schweigt.«
Sie fühlte ein banges Gefühl in sich aufsteigen. »Was hat das deiner Meinung nach zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht, meine Libelle«, erwiderte er. Er wies geradeaus. »Lass uns diesen Hügel ersteigen und sehen, wie es weitergeht«, schlug er vor.
Sie folgte ihm schnell den Anstieg hinauf und schaute mit ihm auf einen kleinen See mit Buschwerk und Bäumen hinab, an dessen diesseitigem Ufer ein seltsamer dunkler Haufen lag. »Was ist das?«, fragte sie furchtsam.
Er antwortete nicht, nahm ihre Hand und zog sie mit sich den Hügel hinab; mit wachsendem Schrecken erkannte sie nun die vielen Spuren, die aus nördlicher Richtung über andere Hügel herabkamen; eine von einem großen Heer gezogene breite Bahn, die alles Gras und Buschwerk niedergemäht und hier und da tiefe Gruben ins Erdreich gegraben hatte.
Die Spuren führten an dem dunklen Haufen am See vorbei weiter nach Westen. Bald konnte Gorwyna das Gebilde am See erkennen: eine große, in eine schwarze Rüstung gekleidete Gestalt mit einem gehörnten Helm, der das Gesicht völlig verbarg. Eine seltsame Ausstrahlung ging von dem Leichnam aus, der Gorwyna wie eine mystische Aura umgab und sie unwiderstehlich anzog, und sie kniete bei ihm nieder.
»Nicht berühren!«, warnte Kelric leise hinter ihr.
Gorwyna zuckte unter dem Klang seiner Stimme zusammen und sprang eilig zurück.
»Es ist ein Phantom«, fuhr der Zauberer ruhig fort. »Deine Wärme könnte ihn zurückholen.«
»Was sind die Phantome nur für entsetzliche Wesen?«, rief sie.
»Halbleben, wie ich bereits sagte«, erklärte er, »Wesen, die vom Leben nicht in den Tod fanden. Sie haben eigene Gesetze.« Mit ruhigen, sicheren Bewegungen machte er magische Zeichen, woraufhin das Phantom sich zischend auflöste und spurlos verschwand.
»Er berührte das Wasser dieses Sees«, vermutete Kelric, dann neigte er lauschend den Kopf. »Ja«, fuhr er fort. »Ein Wassergeist tötete das Phantom. Wir sind zu spät gekommen, Gorwyna. Lefrad ist bereits gefallen.«
Sie fuhr zu ihm herum. »Nein!«, schrie sie auf.
Er legte die Hände auf ihre Schultern und drehte sie zum Wasser. Konzentriere dich und pass auf!
Gorwyna gehorchte und sah voller Grauen und Entsetzen eine blutige Schlacht in der Vision des Wasserspiegels; das Phantomheer überrollte wie eine schwarze Lawine das Herz des Reiches, und sie schloss die Augen, als sie den König und seinen Sohn sterben sah.
»Der Ghûle gab ihnen ausreichend Kraft, aber er ist nicht bei ihnen, dank mir«, sagte er leise. »Wenigstens dafür war es gut. Wir haben noch nicht ganz verloren. Die Phantome können Laïmor so lange nicht verlassen, bis sie sich an das Sonnenlicht gewöhnt und ihre Macht gefestigt haben.«
»Er ist tot!«, stieß sie niedergeschmettert hervor. »Der Prinz ...«
»Ja, Kleines. Sie waren schneller als wir. König Kruilon hat uns nicht belogen, als er meinte, das zweite Heer wäre bereits unterwegs.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Was können wir jetzt tun?«
»Ich muss umgehend nach Laïre und dem Lordmeister Bescheid geben«, antwortete Kelric. »Jetzt muss unsere Waffe eingreifen.«
»Ich gehe mit!«, verlangte sie. »Du kannst mich nicht einfach zurück lassen!«
»Ausgeschlossen«, lehnte er
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