Utopolis
brauchen, war eine Entgleisung. Aber ich hatte keine Zeit, nach passenden Ausdrücken zu suchen.
Ich versuchte es mit Güte und sprach ruhig auf die Genossen ein.
Noris setzte sich plötzlich wieder an den Tisch, legte den Kopf in die Hände und fing an zu weinen, wie ein gescholtenes Kind.
»Niemandem kann man’s recht machen. Alle schlagen auf einen los. Ich bin so müde – so müde.«
Ich drang in Tirwa, den der Name Joll immerhin etwas ernüchtert hatte. »Was heißt C 43?«
»C ist das Schlüsselwort für den geheimsten Akt des obersten Zentralrates«, sagte er verdrossen.
Ich ruhte nicht, bis man dieses fast nie gebrauchte Aktenstück herbeiholte.
C 43 lautete: »Im Falle höchster Gefahr und wenn das Land ganz in der Hand des Feindes ist, soll der Turm durch den elektrischen Schutzpanzer gegen jede Einwirkung von außen dicht gemacht werden. Bei zerstörten Kraftwerken währt die Schutzstrahlung drei Monate. Wenn nach dieser Frist keine Änderung der Lage eingetreten ist, soll der Turm gesprengt werden.«
»Wo befinden sich die Vorrichtungen, um den Schutz auszulösen?«
»Das geht dich einen Dreck an«, knurrte Noris. Aber Tirwa rieb sich die Schläfe und schlug sich vor die Stirn, als wollte er sich gewaltsam ermuntern. »Joll« – lallte er mühsam – »Joll und … im Falle höchster Gefahr … Gib mir den Schlüssel … Noris. Wir müssen wir müssen …«
Noris begann wieder zu weinen und zu schluchzen: »Immer ich. Ich soll alles tun. Ich will nicht mehr. Ich bin so müde …« Aber er zerrte einen kleinen Schlüsselbund aus seiner Hose und warf ihn Tirwa vor die Füße. Ich hob ihn rasch auf und nahm Tirwa am Arm. Wir gingen in den Arbeitsraum von Noris. Tirwa führ te mich vor einen Stahlschrank, der in die Wand eingelassen war. Ich schloß auf. Zwei kleine Hebel glänzten mir entgegen. Unter dem einen stand: Elektroschutz. Er trug eine starke Plombe. Unter dem andern: Sprengung. Um ihn betätigen zu können, mußte ein kräftiger Eisenbügel durchgefeilt werden.
Ich wollte die ungeheure Verantwortung nicht auf mich laden, und bat Tirwa, den ersten Hebel herunterzudrücken.
Er legte die Hand auf die silberglänzende Kugel. Aber plötzlich verzerrten sich seine Züge, er funkelte mich wie ein tolles Tier aus bösen Augen an. Bevor ich mich besinnen konnte, stürzte er sich auf mich und brüllte: »Du Teufel, du willst uns alle umbringen. Du bist an allem Schuld. Du – Spion!«
Ich warf mich zur Seite. Tirwa prallte an den Schreibtisch. Eine entsetzliche Hetzjagd begann. Endlich gelang es mir, dem Rasenden einen Stuhl vor die Beine zu werfen. Er stolperte, fiel, stöhnte und konnte sich nicht mehr erheben.
Aber schon hörte ich hastiges Laufen und Schreien. Die anderen kamen. Wahrscheinlich war in ihnen gleichzeitig die Wahnidee entstanden, ich sei ein Spit zel. Sie würden mich in sinnloser Wut zerfleischen. Flucht? – Es gab keinen Ausweg. Ich sprang zu dem Stahlschrank und riß mit Aufbietung aller Kräfte den Hebel herab, mochte werden, was wollte.
In diesem Augenblick lief ein feines, durchdringendes Knistern durch das riesige Gebäude. Die Brücken, die den Turm mit den nächsten Wohnburgen verbanden, begannen zu glühen, flammten blau auf und zerschmolzen.
Die Tür krachte. Meine Verfolger stürmten herein. Das Ende, dachte ich. Ganz in der Ferne tauchte Jana vor mir auf.
Noris, an der Spitze, stutzte, als er Tirwa vor sich liegen sah, blieb stehen und hielt die andern zurück. Dann taumelte er und stützte sich schwer auf den Schreibtisch. Er wischte sich mehrmals über die Augen, als wollte er böse Traumbilder verscheuchen und fragte mich tonlos: »Was ist hier geschehen? – Was geht mit uns vor? – Was hast du getan, Genosse?«
Auch die andern benahmen sich wie Erwachende. Sie lehnten blaß an den Wänden und blickten verwundert um sich.
Tirwa setzte sich unter Stöhnen halb auf und sagte mit klarer Stimme: »Joll hat uns gerettet, Genossen. Utopolis ist vergiftet. Und wir waren es auch. Besinnt euch! Wacht auf!«
Eine Viertelstunde verging, bis sich alle erholt hatten. Wir hoben Tirwa auf, er hatte sich zum Glück nur den Fuß verstaucht, und trugen ihn in den Sitzungssaal zurück.
Ich brachte jetzt noch einmal vor, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hatte.
Der Fall lag klar. Die Privaten ließen eine geheimnisvolle Strahlung auf Utopolis wirken, die die Gehirnzellen degenerierte. In dem Augenblick, als ich den elektrischen Schutzpanzer um den
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