Utopolis
als sei ich der Feind. Er war leichenblaß, Tränen liefen über seine Backen. »Klugsnaker seid ihr« – er haßte uns in diesem Augenblick und schaute wild um sich – »ick bliew keen fiw Minuten mehr hier up’n Deich und kiek, wie dat Schipp absackt … Los, Korl … Schluß gemacht mit dat Gesindel!« Wir hielten ihn nur mit Mühe zurück.
In die grauenvollen Schmerzensschreie der Zerschmetterten und Zerrissenen mischte sich lustige Marschmusik … Wir suchten das Innere des Turms, wo kein Schall von außen unsere Ohren erreichen konnte.
Lange saßen wir uns wie gelähmt gegenüber. Die Stirn gegen beide Fäuste gepreßt, den Blick stier auf die Tischplatte gerichtet, so grübelte Hein vor sich hin. Aber plötzlich stand er auf, wuchtig und breit, der Stuhl hinter ihm fiel um. »Ich geh’!« sagte er rauh.
Er hatte recht. Wir waren nicht in den Turm gekommen, um uns aus sicherer Entfernung gräßliche Schauspiele anzusehen. Wir hatten einen Auftrag.
Ich erklärte, daß ich Joll versprochen hatte, mich in Morgons Haus einzuschleichen und den geheimnisvollen Strahler zu zerstören, wenn der Bombenanschlag mißlingen sollte. Es wäre jetzt so weit.
»Auf diesen Plan setze ich keinen Pfifferling!« meinte Noris trocken. »Sie werden Morgons Haus wie den heiligen Gral bewachen, darauf kannst du dich verlassen.«
Die anderen dachten dasselbe. Mir selbst erschien unser Vorhaben jetzt ungeheuerlich und meine Zuver sicht war gering. Vielleicht trieb mich mehr die winzi ge Möglichkeit, Jana zu treffen, da unten im Hexenkessel, als der Glaube, etwas gegen die Privaten ausrichten zu können.
Hein hatte seine gute Laune wieder, nun, da es losgehen sollte. »Wollen uns nicht unterkriegen lassen von die verdammten Strahlers«, sagte er mutig, »wollen mal auf hamborgsch mit ihnen reden, wat?«
Wir verabredeten mit den Genossen geheime Zeichen, die uns gestatteten, in den Turm zurückzukehren.
An den Panzerschalter wurde eine automatische Vorrichtung angebracht, die ihn von selbst nach drei ßig Sekunden wieder schloß.
Hein und ich ließen uns in unsere Mützen die elektrische Panzervorrichtung einbauen, die ich bei dem Polizisten gesehen hatte.
Als Kleidung wählten wir eine verrückte Kombination zwischen Gehrock und Arbeiterkluft. Wir mußten jetzt, um nicht aufzufallen, den Genossen gleichen, die von der »Luxuskrankheit« befallen waren.
Ein kurzer Abschied. Wir begaben uns ins Erdgeschoß und sprangen über den Elektrodenraum, sobald wir nach Chronometervergleich wußten, daß der Strom ausgeschaltet war. Wir kletterten über die klumpig geschmolzenen Eisentrümmer der Brücken und landeten im Gewühl der Straße.
24
Im Menschenstrom trieben wir nach U-Privat.
Zelte und Buden waren in dem breiten Anlagengür tel aufgeschlagen, der die Arbeiterstadt von der Kapitalistensiedlung trennte.
Bier und Schnaps flossen in unbeschränkten Mengen. In sauberen weißen Schürzen standen handfeste Dirnen aus der Lakaienkaste hinter den Schenktischen und animierten zum Trinken. Geld war scheinbar abgeschafft. Man wurde mit allen Genüssen eines Schützenplatz-Rummels überschüttet.
Hier brieten riesige Ochsen am Spieß. Wer sich herandrängte, erhielt einen dampfenden Fleischklumpen und zerriß ihn mit Fingern und Zähnen. Dort wurden weiße, dickknollige Wurzeln in lange Spiralen aufgeschnitten und reichlich mit Salz bestreut. Ihre scharfe, atzende Würze stärkte die vom Alkohol verdorbenen Magensäfte – und machte neue Lust zum Trinken.
Fetttriefende Backwaren verrichteten ähnliche Dienste.
In sonderbaren historischen Trachten sorgten Musik kapellen für Stimmung. Manche trugen kleine, grüne Hütchen mit weißen und braunen Federbüschen. Ihre Waden waren mit dickwollenen Strümpfen bekleidet, die weder die Füße, noch die Knie bedeckten. Sie schlugen sich manchmal wütend auf die nackten Oberschenkel, daß es klatschte, und kollerten dazu wie balzende Auerhähne.
In anderen Zelten handhabten schwarzlockige Jünglinge im Frack komplizierte Instrumente. Ihre Schultern zuckten wie Kolben an leerlaufenden Maschinen. Ihre Köpfe schaukelten kunstvoll gegen den Takt. Sie geigten, bliesen, zupften und trommelten in sonderbarer Angst, als fürchteten sie, eine unsichtbare Macht würde ihnen unversehens die Stühle unterm Hintern wegziehen.
In diesen Zelten wurde getanzt. Die Paare hielten sich eng umschlungen, um nicht zu stürzen, denn ihre Beine zappelten nach Art der Hampelmänner und schlenkerten
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