Utopolis
war das Treiben womöglich noch ärger. Hier zogen vor allem die Verkaufshäuser die Massen an.
Die Ware, die man aushändigte, sah kostbar aus, hatte aber nur geringen Wert. Ich vermutete, daß man sie in Schiffsladungen aus Europa importiert hatte. Am meisten begehrt wurden von beiden Geschlechtern Modewaren. Trotz der Sommerhitze »gingen« imitierte Pelze rasend ab. Die Männer rauften sich um Fracks, Smokings und Gehröcke. Dazu besorgte man sich Lackschuhe mit grellbunten Stoffeinsätzen. Sie zwängten ihre Hälse in steife Stehkragen, daß die Gesichter blaurot anliefen, und schlangen bunte Schlipse zu dic ken Knoten und Schleifen.
Die Frauen bevorzugten viel zu enge Stöckelschuhe, stolperten und stürzten auf der Straße und wurden überfahren, ohne daß sich jemand um sie kümmerte. Viele begnügten sich mit grellfarbenen, kunstseidenen Hemdhosen und trugen darüber ihre Pelze.
Sehr beliebt waren bei den Männern Brillen und Monokels, bei den Frauen Lorgnons, die sie an langen, unechten Perlenketten baumeln ließen oder kokett vor die Augen nahmen.
Manche Frauen errafften Kopfputz aus Straußenfedern. Der war selten. Schlachten entwickelten sich. Es gab verrenkte Gliedmaßen, blutig zerkratzte Gesichter und blaugeschlagene Augen. Die Beute löste sich in schmutzige Federknäuel auf.
Um karierte Seidensocken, die man nicht in entsprechenden Massen vorgesehen hatte, schlugen sich Männer tot.
Die Hotels, Cafés, Bars und Varietes standen jedem offen und lieferten an Getränken und Speisen, was man nur wünschte.
Hier bildete sich eine neue Lebewelt heran, die bereits auf die herabhöhnte, die an den derberen Freuden des Rummelplatzes Gefallen fanden.
Die Mädchen schminkten sich, malten sich die Lippen violett und ließen sich öffentlich Rubinglasrosetten in die Haut einstechen, ohne mit der Wimper zu zuc ken. Kokain stand in Silberdöschen zum allgemeinen Gebrauch auf den Tischen. Man tanzte hier zügelloser als in den Zelten. Kavaliere forderten sich und trugen ihre Ehrenhändel auf den Aborten aus.
In der Alhambra führte man noch das gleiche Programm vor, das ich schon kannte. Aber das Publikum war ganz anders bei der Sache. Man verfolgte die Szenen aufgeregt, begleitete sie mit tollen Zurufen und Anfeuerungen und zögerte nicht, den durch Gewohnheit erschlafften »Künstlern« kraftvolle Möglichkeiten zu beweisen.
Ich hatte Hein aus den Augen verloren. Besorgt schaute ich nach ihm aus. Er kam vom Büfett und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Was sie hier als Sekt verschenken«, meinte er, »ist rechter Teufelsdreck. Aber wenigstens kalt.« Und ich sah ihm an, daß er nicht nur ein Glas hinuntergekippt hatte.
Überall, wo ich Mädchen in besonders ausgelasse ner Laune sah, glaubte ich Jana zu erkennen. Ich fühl te, wie meine Nerven durchzugehen drohten. Laß alles gehen, stürz’ dich auch in den Strudel, betäube deinen Schmerz, Rauschgifte nehmen allen Kummer von dir – hier ist Schnaps – Wein – Kokain – bediene dich, so drängte es in mir immer lockender. Ich nahm alle Kraft zusammen und schaltete meinen Elektroschutz ein.
Sofort lösten sich die Beklemmungen. Ich wurde wieder zuversichtlicher und konnte aufmerksamer beobachten.
Die Privaten hatten ihr Feld den genußsüchtigen Arbeitern geräumt. Wahrscheinlich hielten sie sich in ihren Villen verborgen und erwarteten den nächsten Akt des Dramas. Nur ab und zu sah ich einen mit überlegenem Lächeln durch die tobende Menge schreiten: Kontrollgänge. Man konnte aus ihren Mienen lesen, daß neue Überraschungen nicht auf sich warten lassen würden.
In Heins Fäusten zuckte es gefährlich, wenn wir ihnen begegneten. Am liebsten wäre er ihnen an die Gurgel gesprungen. Er begnügte sich, sie »aus Versehen« anzurempeln. Das hatte er großartig heraus. Einem trillerte er den Daumen in den Bauch, daß der sich platt in den Dreck setzte und nach Luft schnappte. Hein hatte sich schon in der Menge verkrümelt, »’n ganz amüsierlicher Betrieb«, meinte er, als er wieder neben mir auftauchte.
Ich war froh, als es dämmerte. »Vergiß Morgon nicht!« raunte ich Hein zu, der eben, vom Jazz ange regt, zu steppen begann. Er kniff listig die Augen zusam men: »Ick verstell’ mir bloß!« flüsterte er, aber sehr hörbar.
Mir war recht flau zumute. Wenn ich an seine ehrliche Wut im Turm dachte und ihn jetzt so mordsver gnügt sah … da stimmte etwas nicht. Außerdem bilde te ich mir ein, wir würden insgeheim
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