V wie Viktor
Instrument mit solch einer Leidenschaft und Hingabe so wunderschöne, gefühlvolle Töne entlockte. Die Melodie steigerte sich, erzählte eine Geschichte von unstillbarem Heimweh und einer tiefen Liebe und trieb mir die Tränen in die Augen. Als ob die Musik den Filter zerrissen hätte, brachen alle Dämme und all das, was ich die letzten Stunden zurückgehalten hatte, strömte aus mir heraus. Er war so in sein Spiel versunken, dass er mein Schluchzen nicht bemerkte. Erst als der letzte Ton noch verklingend im Raum schwebte, drehte er sich überrascht zu mir um.
»Anna? Um Himmels willen!«
Mit zwei großen Schritten stand er vor mir, streckte die Hände nach mir aus — und zuckte zurück. Die Luft zwischen uns schien zu brennen. Seine Augen verdunkelten sich, er ließ die Arme sinken und sah mich hilflos an. Wie hätte ausgerechnet ich ihm helfen können? Ich hatte die ganze Zeit nicht an Viktor gedacht, nicht denken wollen, aber jetzt schwebten seine Veilchenaugen genau vor mir wie ein Mahnmal. Eine Sekunde nach der anderen verstrich, dann brach er den Bann, indem er den Blick abwandte.
»Soll ich dir das Gästezimmer zeigen?«
Nochmal Scheiße!
Was für ein Spielchen spielen wir beide da?
»Andrew …«
Er schüttelte nur leicht den Kopf und zauberte irgendwie ein Taschentuch hervor, das er mir reichte.
»Komm. Du solltest dich ein wenig ausruhen. Es ist viel passiert. Viel zu viel.«
Den letzten Teil hatte er mehr zu sich sich selbst gesagt, als zu mir. Ich putzte mir die Nase, schluckte meine wieder aufsteigenden Tränen herunter und folgte ihm durch den Flur. Er öffnete eine der Türen, ließ mir den Vortritt.
»Das Bett ist frisch bezogen. Wenn du irgendwas brauchst, sag es mir.«
Das Zimmer passte zum Rest der Wohnung, warm, gemütlich und überall war Andrews Handschrift erkennbar. Als ich mich zu ihm umdrehte, war er verschwunden, hatte leise die Tür zugezogen. Ich war allein. Mit hängenden Schultern setzte ich mich auf die Bettkante und versuchte meine Gedanken zu sortieren. Irrsinn. Der einzige passende Ausdruck für die letzten Tage! Mein so geordnetes, normales Leben hatte sich in ein völliges Chaos verwandelt. Und das Schlimmste, ich konnte mit niemandem darüber reden. Wem hätte ich das erzählen sollen? Die einzigen Menschen, denen ich so vertraute, dass ich es tatsächlich gewagt hatte, nämlich meine Eltern und meine Schwester waren tot. Sie waren vor 5 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich vermisste sie immer, aber jetzt in diesem Moment so schmerzlich, wie schon lange nicht mehr. Zu der restlichen Familie hatte ich schon früher keinen sehr engen Kontakt, nach ihrem Tod hatte ich ihn ganz abgebrochen. Nichts kann eine Familie mehr auseinanderreißen, als eine Erbschaft. Ansonsten kam nur noch meine beste Freundin infrage, aber sie war so unendlich weit weg. Sie hatte nach einer gescheiterten Ehe und einer fiesen Scheidung doch noch ihre große Liebe gefunden und war mit ihm nach Neuseeland ausgewandert. Sicher, wir schrieben uns und telefonierten regelmäßig, auch einen Besuch hatten wir schon geplant. Aber bei der Vorstellung, ihr am Telefon zu sagen: »Hey Süße, stell dir vor, ich hab mich in einen Vampir verliebt«, musste ich kichern. Ihren Gesichtsausdruck hätte ich gerne gesehen. Ja, und nun? Saß ich hier. Allein. Verdammt allein.
Viktor war entweder schon auf dem Rachefeldzug gegen Pierre oder noch tief in seiner Trauer um Sasha versunken. Dieser Ausdruck in seinen Augen, als er sie in seinen Armen hielt, ließ mich nicht los. Soviel Leid und Schmerz! Es war unfassbar, dass sie sich für ihn geopfert hatte. Denn sie musste gewusst haben, dass sie das nicht überleben würde, nicht bei Pierre, dafür kannte sie ihn viel zu gut. So etwas nannte man wohl wahre Liebe. Langsam dämmerte mir, dass ich eifersüchtig war. Eifersüchtig auf ihre heldenhafte Tat, auf seine herzzerreißende Trauer.
Anna, das ist krank!
Erschrocken über mich selbst, flüchtete ich mich in Aktivität. Nachdem ich mich im angrenzenden Bad frisch gemacht hatte und den dicken, weichen Flanellpyjama angezogen hatte, inspizierte ich das Zimmer näher. Auch hier fanden sich überall Spuren von Andrews Heimweh. An den Wänden gab es mehrere Bilder von Glen Coe, doch keines hatte die Intensität und den mystischen Zauber des großen Gemäldes im Wohnzimmer. Über einer Kommode hingen zwei gekreuzte Schwerter und daneben ein Wappen. Da ich keine Ahnung von solchen Dingen hatte, konnte ich
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