Vaclav und Lena

fällt ihm nicht ein, dass Lena vielleicht ohne ihn sein möchte, vielleicht ohne ihn Dinge sagen, denken und tun möchte oder vielleicht diese Dinge mit anderen tun möchte und nicht mit ihm. Er denkt nur, dass Lena jetzt Freundinnen hat und die Girls gern mal unter sich sind, etwas ganz und gar Normales, wie er es im Fernsehen gesehen hat. Lena wird sich freuen, dass sie ihn sieht, sobald ihre Zeit mit den Freundinnen vorbei ist, glaubt er, und sie wird sich freuen, dass er nun da ist und mit ihr vom Haus der Tante zu seinem Haus gehen wird und dass sie keine Zeit verschwenden und gleich mit den Proben für die Zaubervorführung loslegen werden.
    Vaclav weiß, dass Lena Hilfe bei ihren Hausaufgaben braucht, aber er ahnt nichts von Lenas Gefühlen, er weiß nicht, dass sie keinen Ort hat, wohin sie gehen kann. Er kennt die Gründe nicht, warum Lena nicht ins Haus der Tante geht, nicht einmal |59| für einen Augenblick, um ihren Rucksack abzustellen, ein Glas Wasser zu trinken oder die Toilette zu benutzen. Vaclav kennt nur die Buchstaben, nicht den Geist der Gesetze in Lenas Leben, und manchmal kennt er nicht einmal alle Buchstaben.
    Vaclav weiß nicht, dass er für Lena ein Ort ist, wohin sie gehen kann, anstatt nirgendwohin. Wenn er das wüsste, wäre er vielleicht glücklich, ihr Irgendwo zu sein, aber er weiß es nicht.
    Lenas Ort ist zwischen zwei Orten
    Bis zu ihrer Entdeckung, dass Vaclav ihr gefolgt war, hat Lena einen guten Tag gehabt. Die beliebten Mädchen, die sie seit Ewigkeiten ignoriert, ausgeschlossen und nicht zu ihren Geburtstagspartys eingeladen hatten, haben sie nun gebeten, beim Mittagessen mit ihnen an einem Tisch zu sitzen, und sie haben in richtig flüssigem Englisch über vieles geschwatzt. Die meiste Zeit hat sie nichts zum Gespräch beigetragen, dafür hat sie gelacht und die Meinung der anderen geteilt. Lena redet im Allgemeinen nicht, weil ihr Englisch nicht gut genug ist.
    Marina und Kristina sind in Lenas ES L-Klasse , weil sie nicht gut Englisch können. Sie sind eigentlich sogar schlechter als Lena. Der Unterschied ist nur der, dass Marina und Kristina sich nicht schämen müssen wie Lena, denn sie sind erst vor zwei Jahren aus Russland angekommen. Wenn jemand sie fragt, wie lange sie schon in Amerika sind, und sie antworten »zwei Jahre«, |60| sind alle, Eltern und Lehrer und selbst andere Kinder, beeindruckt und sagen ihnen, wie prima sie das hinkriegen, und sie sollen weiter üben, sie sind ja so intelligent.
    Lena ist als Baby von Russland nach Amerika gekommen. Nach ihrer Ankunft lebte sie bei ihrer Babuschka, und sie kannte bloß ihre Babuschka, und die redete Russisch mit Lena, die einzige Sprache, die sie beherrschte, und es wurde die einzige Sprache, die Lena konnte.
    Als Lena in den Kindergarten kam, sprach sie nur Russisch und ging darum halbtags in die ES L-Gruppe für Kinder, die Englisch schlecht oder überhaupt nicht sprechen. Lena war immer schüchtern und hatte große Angst, etwas laut zu sagen und das erlernte Englisch anzuwenden. Daheim sprach niemand Englisch, alle redeten nur Russisch. Zu Hause konnte sie laut reden und genau dann auf die Toilette gehen, wenn ihr danach war, ohne Angst, die Hand zu heben und sich daran erinnern zu müssen, was man beim Zur-Toilette-Gehen sagen sollte, noch viel schlimmer, das Falsche zu antworten, sobald man aufgerufen wurde. Das Schlimmste war, wenn Lena etwas sagte, das alle zum Lachen brachte, und sie nicht wusste warum.
    Wenn Leute Lena fragen, wie lange sie in Amerika ist, und sie antwortet, seit ich klein bin, dann sagen sie nicht, dass sie das gut hinkriegt oder dass sie weiter üben soll oder sonst was, denn ihrer Meinung nach hat Lena reichlich Zeit gehabt, Englisch zu lernen, und sie nehmen an, sie brauche wohl eher eine Sonderschule als ESL.   Auch wenn Lena von ihrem Wesen her laut, lustig und intelligent ist, gern Lieder singt und ihr Großes durch den Kopf geht, erscheint sie nach außen hin schüchtern und still.
    |61| Deshalb weiß niemand, wie klug Lena eigentlich ist, denn sie beantwortet in der Klasse keine Fragen, und die Lehrer runzeln die Stirn über sie, und sie gibt immer als Letzte ihre Arbeitsblätter ab. Auch wenn Zahlen in jeder Sprache gleich sind, macht sich niemand klar, wie schwer es fällt, Division mit Rest zu begreifen, wenn man die Sprache desjenigen nicht versteht, der einem erklärt, was der Dividend ist und was der Divisor und wie man etwas überträgt. Alle haben eine falsche Vorstellung