Vaclav und Lena
von Lena, außer Vaclav.
Aber heute war es anders, heute war es nicht wie sonst. Heute saß Lena mit den coolen Mädchen am großen Mittagsesstisch und nicht allein mit Vaclav in der Ecke bei den Abfalltonnen. Sie fühlte sich nicht seltsam und ausgeschlossen als das einzige Mädchen ohne Freundin. Lena war glücklich, weil am Tisch anscheinend niemand bemerkte, dass sie keinen Ton sagte. Wie es schien, waren die anderen Mädchen froh, dass Lena dabei war, lachte und zu allem nickte, was sie sagten. Es schien Lena, als gäbe es am Tisch Mädchen, die dafür da waren, das Wort zu ergreifen, und andere zum Zuhören. Falls auch Mädchen, die nicht redeten, am Tisch erwünscht waren, freute Lena sich, erwünscht zu sein. Lena fand heraus, dass sie erwünscht war, weil sie hübsch war und still.
Und dann sah sie Vaclav, der, versteckt hinter einem Briefkasten, von der Straßenseite gegenüber lächelte und winkte, und alles war dahin. Sie kam sich nicht mehr hübsch und still vor. Sie war zornig und kam sich blöde vor. Sie kam sich wie ein hässliches Entlein vor. Wie jemand, der nur einen einzigen Freund hat und so hässlich ist, dass die anderen zu ihrem einzigen Freund gemein sind.
|62| Lena möchte nur einen Platz für sich finden zwischen Vaclav und den coolen Mädchen, zwischen dem, was sie will, und dem, was sie braucht. Lena möchte niemanden verletzen, und sie glaubt, vielleicht einen Weg gefunden zu haben.
Romeo und Julia, Mann und Frau
»Hi, Lena! Überraschung, ich warte auf dich!«, sagt Vaclav und sieht, dass Lena wütend ist, denkt aber, wenn seine gute Stimmung ansteckend genug ist, wenn er genügend aufmunternde Worte findet, dann wird sie nicht mehr so wütend sein, ihre Wut vergessen und sich einfach freuen, mit ihm nach Hause zu kommen und für die Zaubervorführung zu proben.
Vaclav hat keine Angst, sich mit Lena zu streiten. Vaclav und Lena sind Freunde, seit sie fünf sind, und sie streiten sich natürlich. Wenn jemand dein Schicksal ist, jemand, den man mehr als jeden anderen liebt, drängt man ihn manchmal und zerrt an ihm herum und möchte ihn verletzen. Man streitet sich, wenn jemand der einzige Mensch ist, der auf der ganzen Welt zählt, und man keine andere Wahl hat, und deshalb streiten sich auch Geschwister, sie beißen, treten sich und schreien.
Lena steht auf der Treppe vor dem Haus ihrer Tante und starrt Vaclav wütend an. Vaclav steht am Fuß der Treppe auf dem Bürgersteig und schaut lächelnd zu Lena hoch. Ein Passant würde die Szene für romantisch halten, wie bei Romeo und |63| Julia. Lena möchte, dass genau dieser Eindruck nicht entsteht, sie möchte, dass niemand erfährt, wie viel Zeit sie mit Vaclav verbringt, wie viel Zeit sie zu Hause bei ihm mit albernen, peinlichen Dingen verbringt. Sie möchte nicht, dass jemand erfährt, wie sie und Vaclav darüber sprechen, eines Tages Mann und Frau zu sein. Sie schämt sich, dass sie ihn gebeten hat, es zu versprechen, ihm mit Fragen zugesetzt hat, ob das alles wirklich wahr werden könnte, immer wieder, bis sie daran glaubte und er auch.
»Geh«, sagt Lena.
»Wohin?«
»Nach Hause«, sagt Lena, »nicht gucken.«
»Wohin nicht gucken?«
»Zurück«, sagt Lena. »Nicht zurückgucken.«
Also dreht Vaclav sich um und geht in Richtung Zuhause, fort von der Vordertreppe an Lenas Haus, und auf dem ganzen Weg guckt er nicht zurück. Lena wartet, und sobald Vaclav um die Ecke biegt, folgt sie ihm mit einer Häuserzeile Abstand, nie auf der gleichen Höhe, aber noch bei ihm. Er weiß, ohne zu fragen und ohne hinzugucken, dass sie hinter ihm ist. Er weiß, Lena hat ihm das Versprechen abverlangt, eines Tages ihr Mann zu werden, ganz gleich, was passiert, also ist er unbesorgt.
Als Vaclav an seinem Haus ankommt, geht er hinein, ohne sich umzuschauen, und natürlich trudelt Lena zwei Minuten später ein, ohne zu klingeln oder anzuklopfen.
|64| Nur Vaclav und nur Lena gibt es nicht
Bei Vaclav ist niemand zu Hause. Oleg ist noch bei der Arbeit, er ist Taxichauffeur (ein Wort, das Vaclav lieber ist als Taxifahrer), und an den meisten Tagen dauert seine Schicht vom frühen Morgen bis kurz vor der Zeit zum Abendessen. Rasia arbeitet zu der Zeit noch im Sanitätshaus in der King’s Highway, wo sie Telefonate führt, die Ablage und Inventur macht und alles, was sonst anfällt, was sich für Vaclav stinklangweilig anhört.
Vaclavs Wohnung befindet sich in der unteren Hälfte eines ganzen Hauses. Es sieht wie ein großes Haus aus, aber es
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