Vaclav und Lena
zu danken oder ihr ein Geschenk zu machen, und das weckt wieder das zornige Gefühl, aber Vaclav schiebt es beiseite.
»Hier«, sagt Vaclav und lenkt Lenas Blick auf die erste Aufgabe, »die Frage lautet, wie oft ist zwei in 627 enthalten.«
»Was heißt ›enthalten‹?«, fragt Lena.
»Es heißt, wie viele Zweier sind in 627.«
»Eine«, sagt Lena und zeigt auf die Zwei in 627.
»Nein, es ist so. Du bist eine Eins. Ich bin eine Eins. Zusammen sind wir zwei, ja?«
»Dah«, sagt Lena.
»Zusammen sind wir VacLena, ein Ganzes. Aber wir brauchen zwei Plätze – zwei Stühle«, sagt Vaclav und spielt in seinen Gedanken durch, wie er es ihr endgültig klarmachen kann.
»Wenn da 627 Stühle wären, wie viele VacLenas könnten sitzen?«
»Ich weiß nicht.«
»Erinnere dich, jeder VacLena braucht zwei Stühle, und die können nicht aufgeteilt werden.«
»Warum nicht?«, fragt Lena.
»Weil«, sagt Vaclav, »weil es dann einen Rest gibt, das kommt als Nächstes dran.«
»Was ist ›ein Rest‹?«
»Das ist, wenn wir VacLena aufteilen, weil nur noch ein Platz da ist, weil nur ein Stuhl übrig bleibt. Dann heißt es, entweder nur Vaclav oder nur Lena.«
»Und das kann nicht sein«, sagt Lena.
»Das war sehr gutes Englisch, Lena.«
|68| Vaclav will, was Lena will
Vaclav braucht eine ganze Stunde, um Lena ihre Mathematik beizubringen, und dann sind da noch ein Übungsblatt für ESL und eine schriftliche Hausaufgabe für Lenas normale Klasse. Als sie zur schriftlichen Hausaufgabe kommen, ist Rasia längst zu Hause, und draußen ist es dunkel, und Vaclavs Limonadenglas ist viele Male gefüllt und geleert worden. Bei der schriftlichen Hausaufgabe sackt Lena auf dem Stuhl zusammen, und es kommt Vaclav vor, als hätte sie Nudeln statt Knochen im Leib. Sogar Lenas Kopf fällt nach vorne, und als Vaclav sie auffordert, sich einen eben geschriebenen Satz oder die Rechtschreibung eines Wortes genauer anzusehen, seufzt sie und stützt den Arm auf den Tisch, dann den Kopf auf den Arm und macht die Augen kaum auf.
»Du musst den Stift nehmen und den Satz selbst schreiben, Lena! Ich kann dir dabei helfen, doch wenn ich ihn dir hinschreibe, dann riecht die Lehrerin den Schwindel!«, sagt Vaclav.
Lena seufzt laut und tief, ihr ganzer Körper stößt plötzlich diesen Laut aus.
In der Küche rumort Rasia, was es Vaclav erschwert, sich zu konzentrieren. Lena tut so, als wäre sie ein Nudelhaufen auf einem Stuhl, und oben in Mrs. Ruvinovas Wohnung läuft mit heftigem Geschrei, Geknalle und Getöse ein Film. Wahrscheinlich schauen sich Mrs. Ruvinovas Söhne den Film an und nicht Mrs. Ruvinova. Sie sind dick und ihre Haare sehen immer feucht aus, sie riechen nach Lagerhaus und tragen Lederjacken, |69| die sie niemals ausziehen und die auf Mrs. Ruvinovas Ledersofas ein komisches Geräusch machen.
Bei seinen Ausflügen ins Obergeschoss zu Mrs. Ruvinova, um nach Zucker, Mehl oder Wodka zu fragen, hat Vaclav die Söhne gesehen. Er weiß nicht, wie viele es sind, denn sie sehen sich alle sehr ähnlich. Er fühlt sich in ihrer Gegenwart unbehaglich und unsicher, denn immer wenn er oben ist und darauf wartet, dass Mrs. Ruvinova ihm eine Tasse Zucker gibt, sitzen sie bloß auf dem Sofa und grüßen nicht einmal.
Vaclav denkt an Mrs. Ruvinovas Söhne und an die Geräusche und Gerüche, die seine Mutter beim Kochen macht, und an das, was sie kocht. Bislang ist es etwas mit Zwiebeln und Kohl, verbunden mit reichlich Rauch und Dampf. Es fällt ihm schwer, sich zu überlegen, was Lena in ihrer Hausarbeit über die Amerikanische Revolution noch schreiben könnte, zumal Lena überhaupt nicht mitmacht und auf dem Stuhl neben ihm bloß dasitzt wie ein Klumpen, der ein bisschen wie Lena aussieht.
»Räumt die Hausaufgaben vom Tisch und deckt fürs Essen, sonst setzt’s was«, sagt Rasia. Sie sagt das mit angenehmer, warmer Stimme, auch wenn die Wörter böse klingen. Als sie nämlich in Russland noch auf die Formalitäten, Papiere und Briefe wartete, die ihr erlauben würden, mit der Familie nach Amerika auszuwandern, hat sie Englisch gelernt, indem sie sich jeden Abend im Fernsehen
Law & Order
anschaute.
Vaclav schließt den Loseblattordner und Lenas Aufsatzheft, räumt Bleistifte und Radiergummis und Bücher vom Tisch. Lena zieht ihren Nudelkörper vom Stuhl, um das Essbesteck abzuzählen, und Rasia fragt:
»Lena? Bleibst du?«
|70| »Dah«, sagt Lena
»Englisch!«, sagt Rasia.
»Yee-s«, brummt Lena, wie sie es
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