Vaclav und Lena
gibt eine Treppe, die zu Mrs. Ruvinovas Eingangstür hinaufführt, und eine weitere Tür unter der Treppe, nämlich Vaclavs Wohnungstür. Da sich Vaclavs Haus unterhalb eines anderen Hauses befindet, hat er manchmal das Gefühl, als versteckte er sich in einer behaglichen Behausung wie in einem Fuchsbau, und manchmal das Gefühl, als wäre er in der U-Bahn , wo es stark rumpelt und beengt ist. Er kann die Leute auf dem Dach seines Hauses hören, welches der Fußboden ihres Hauses ist. Und auch wenn die Häuser gleich groß sind, hat man doch das Gefühl, dass die Leute, deren Fußboden das Dach eines anderen Hauses ist, besser dran sind als die Leute, deren Dach der Fußboden eines anderen Hauses ist. Und irgendwie wäre man auch lieber einer von denen, die durch ihre Fenster auf ein bisschen Baumgrün gucken statt auf ein bisschen Erdboden mit totem Laub.
Vaclav und Lena gehen durchs Wohnzimmer, wo Oleg später schnarchen wird, während russische Fernsehprogramme laufen, |65| vorbei am Badezimmer, an der Tür zu Vaclavs Zimmer und der Tür zum Elternschlafzimmer und in die Küche, wo sie beide ihre Rucksäcke auf den Boden knallen.
Lena setzt sich an den Küchentisch, und Vaclav geht an den Kühlschrank. Dabei hält er den Kühlschrankgriff fest und beugt sich vor, um zu schauen, was im Innern ist, genau wie sein Vater es tut, obwohl Vaclav klein ist und beim Hinunterbeugen nur die Hälfte des Kühlschranks sehen kann.
»Zuerst den Snack. Gut, als Getränke haben wir
Brita
, wir haben Grapefruitsaft, wir haben Limonade. Was möchtest du gern trinken, Lena?« Vaclav nimmt den Karton mit Limonade für sich selbst, bleibt am Kühlschrank stehen und wartet auf Lenas Antwort, obwohl er weiß, dass Lena nichts essen oder trinken will. Manchmal aber, wenn Vaclavs Eltern noch nicht zu Hause sind, sagt Lena, sie müsse ins Bad, doch dann geht sie in die Küche und isst heimlich etwas aus dem Kühlschrank, und manchmal steckt sie sogar etwas aus der Speisekammer in ihren Rucksack und nimmt es mit. Vaclav bemerkt das, sagt aber nichts dazu.
»Erst mal nichts. Dann Hausaufgaben. Hausaufgaben fertig machen. Dann Snack, dann Proben«, sagt Lena.
Vaclav weiß, dass Lena nach den Hausaufgaben keinen Snack isst. Er spürt ihren Wunsch, die Hausaufgaben so schnell wie möglich zu erledigen. Vaclav spürt, wie etwas Unfreundliches ihm die Magenwände hochkriecht, etwas wie Zorn auf Lena, ein Unwille darüber, dass Lena ihn so antreibt, doch das Gefühl vergeht, und er macht den Kühlschrank zu und schüttet sich die Limonade in ein Glas, in dem einmal Marmelade war, nimmt einen großen Schluck und füllt das Glas wieder bis oben hin auf.
|66| Als er sich neben Lena setzt und sein Glas auf den Tisch stellt, sieht es aus, als wäre sein Mund mit einem Lippenstift aus Limonade bemalt und als hätte er einen Schnurrbart aus Limonade.
»Was möchtest du zuerst machen?«, fragt er Lena, wobei er seinen Ordner aus dem Rucksack zieht und ihn auf den Tisch legt.
»Mathe«, sagt Lena und holt aus der Tiefe ihres Rucksacks ein Arbeitsblatt ihrer Mathematikklasse, der niedrigsten Stufe. Vaclavs Matheklasse ist die höchste. Die Matheklassen sind nicht nach niedrig oder hoch oder doof oder clever oder langsam oder schnell geordnet. Sie haben alle eine Farbe, gelb oder violett oder grün, aber jeder weiß, dass in der gelben Klasse mehr ES L-Kinder sind und mehr Bilder auf den Hausaufgabenblättern. Das Arbeitsblatt, das Lena unten aus ihrem Rucksack zieht, gleicht unten einem kunstvollen Fächer, so sehr haben es ihre Schulbücher zerknittert.
Das Arbeitsblatt geht über die Division mit Rest, die Vaclav im vergangenen Jahr in seiner Matheklasse durchgenommen hat, sodass er sie Lena erklären kann. Er sollte Lena vielleicht sagen, denkt Vaclav bei sich, dass ihr Hauptproblem ist, dass sie keine Ordnung hat. Wenn sie mehr Ordnung in ihrem Rucksack und im Ordner hätte, wenn sie sich Schnellhefter und Etiketten zulegen würde, dann würde vielleicht auch eine größere Ordnung in ihrem Kopf herrschen, und wenn sie nicht jedes Arbeitsblatt und jede Übungsaufgabe versauen und zerknüllen würde, dann wäre es vielleicht einfacher, sich anzustrengen und bessere Noten zu kriegen. Aber Vaclav hat das Gefühl, dass Lena das jetzt nicht hören will und dass die Stimmung zwischen ihnen seltsam ist, denn obwohl Vaclav für Lena gerade etwas |67| Nettes tut, hat er das Gefühl, er müsste ihr gegenüber besonders nett sein, so als hätte er ihr
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