Vaclav und Lena
Manchmal ist Muttersein so, als wenn man das Licht anknipst und die Kakerlaken sofort weghuschen, und wenn man den Fußboden prüfend anschaut und auf das Huschen schon eingestellt ist, wird man es auch bemerken. Wenn man aber gerade darüber nachdenkt, was man essen könnte, oder zum Ventilator an der Decke blickt und überlegt, wie lange es her ist, dass man den abgestaubt hat, entgeht einem das Huschen. Wenn Rasia hereinkommt, blickt sie immer gleich Richtung Küche, und es ist wie bei den Kakerlaken. Selbst wenn man nicht gesehen hat, was die Kakerlaken vor dem Weghuschen getrieben haben, kann man sehen, wo sie waren und wohin sie gehuscht sind und wovor sie weggehuscht sind, und dann hat man Hinweise oder eine Vorstellung von dem, was sich abspielt.
Rasia hat auch gesehen, wie Lena so tat, als interessierte sie sich für das, was Vaclav machte, also geht sie gleich zum Küchentisch |74| und sieht, dass Vaclav ein Arbeitsblatt bearbeitet, auf dem oben Lenas Name steht. Rasia öffnet den Kühlschrank und bemerkt, dass der Deckel vom Erdnussbutterglas nur locker aufliegt, und sie schaut hinein und sieht all die kleinen Aushöhlungen von einem Löffel und nicht die Kringel, die ein Messer hinterlässt, wenn man ein Sandwich mit Erdnussbutter bestreicht.
Heute ist Rasia wegen des seltsamen Verhaltens während der letzten Abende in Alarmbereitschaft. Sie bereitet es detektivisch auf. Zuerst war Lenas Erbrechen. Dann war sie nach Hause gekommen und traf Vaclav in der Küche, der noch bei der Arbeit war, und Lena saß zusammengesackt neben ihm am Tisch. Das konnte nichts Gutes bedeuten, denn es war anders als sonst. Normalerweise kommt sie nach Hause und Vaclav und Lena proben in Vaclavs Zimmer eifrig für eine Zaubervorführung, aber bitte bei brennendem Licht und offener Tür und den Füßen auf dem Boden. Ihr Haus ist nämlich ein anständiges Haus.
Sie hat gestern Abend Vaclavs Niedergeschlagenheit beim Essen bemerkt, eine Stimmung wie bei jemandem, der eine lange, schwierige Runde Durak verloren hat. Und jetzt futtert da die kleine Lena etwas aus dem Kühlschrank und verheimlicht es ihr und will Rasia glauben machen, sie helfe Vaclav bei den Hausaufgaben.
Rasia möchte genau wissen, was sich da abspielt, und auch warum.
|75| Vaclav hat Heimweh nach einem Ort, den es nicht gibt
Zum Abendessen hat Rasia Schtschi gekocht. Als sie nach Amerika kam, fand sie heraus, dass sie für sehr wenig Geld morgens den Schnellkochtopf mit Fleisch und Kohl füllen und abends zu einem traditionellen russischen Gericht heimkehren konnte. Gewöhnlich schiebt Lena das graue Fleisch auf ihrem Suppenteller herum, bis es Zeit ist, den Tisch abzuräumen, aber heute isst Lena ihren Schtschi ganz auf, bevor sich Rasia hingesetzt und den Löffel in die Hand genommen hat. Vaclav dagegen benutzt die Gabel, um sich all jene Stückchen herauszupicken, die er nicht essen mag: Kohlfetzen mit angebrannten Rändern oder Tomatenteilchen, an denen noch der Stängelansatz zu sehen ist.
Rasia schaut auf ihren Mann, der sein Wodkaglas umfasst, um zwischen den Bissen daran zu nippen.
Rasia beobachtet Lena aus den Augenwinkeln; sie schabt mit ihrem Löffel auf dem Tellerboden herum, als wäre Schtschi ihre letzte Mahlzeit auf dem Planeten Erde.
»Alle Hausaufgaben gemacht?«, fragt sie.
»Alle. Alles gemacht, Lena und ich werden gleich für unsere Zaubervorführung proben, sobald wir mit dem Essen fertig sind, danke.«
»Bitte«, sagt Rasia, den Blick noch auf Lena gerichtet, die ganz und gar mit ihrem Schtschi beschäftigt ist.
»Lena, du isst so schnell, du musst bald wieder spucken. Nur langsam, es gibt noch mehr für dich.« Lena schaut zu Rasia hoch und errötet.
|76| »Vaclav – füll Lenas Teller.«
»Ihr probt heute Abend Tricks? Zaubereien? Schwindeleien?«, fragt Oleg Lena. Die hat Angst vor Oleg, weil sein Gesicht hässlich aussieht, voll kleiner Löcher, und weil er riecht und weil unter seinem Hemd immer ein Stück seines behaartes Bauches hervorschaut und er alles herausschreit.
Vaclav hat keine Lust, seinem Vater zu antworten oder viel zu essen, und er hat keine Lust, noch länger am Küchentisch zu sitzen. Vaclav hat nicht einmal Lust zu proben.
Wenn Vaclav mutlos ist, liest er gern in seinem Houdini-Buch und erinnert sich daran, dass Houdini viele Schwierigkeiten überwinden musste, bevor er berühmt wurde, und dass Houdini glaubte, Ausdauer und Belastbarkeit seien die wichtigsten Eigenschaften, die man haben sollte. Houdini
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