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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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die weißen Handschuhe, die glänzend weißen Handschuhe, die jede seiner Bewegungen hervorheben und sein Publikum dazu bringen, seinen Händen aufmerksam zu folgen, so als hätte er ihre Augäpfel an einer Angelschnur an seinen Fingerspitzen. Es ist in der Zauberkunst ungemein wichtig, dass die Augäpfel des Publikums fest an den Fingerspitzen des Zauberers sitzen, weil er manchmal mit der Hand wedelt und sagt, »Schauen Sie her, der Zaubertrick ist genau hier«, aber in Wirklichkeit ist der Zaubertrick ganz woanders. Vaclav hat dies aus seinem Zauberer-Almanach erfahren, wo steht, wer lernen will, wie ein Zauberer seine Täuschungen inszeniert, muss genau woanders hinschauen, wenn der Zauberer sagt, »Sehen Sie gut hin, wie ich das hier mache«, denn er will einen nur ablenken.
    »Was möchtest du zur Show in Coney Island anziehen?«, fragt Vaclav, weil das Aussehen der reizenden Assistentin ganz wichtig für die Zauberkunst ist, vergleichbar mit den weißen Handschuhen, welche die Augen des Publikums an den Fingerspitzen festmachen wie an einer Angelschnur. Die Assistentin ist da, damit jeder genau woanders hinschaut. Manchmal ist die Assistentin das Woanders.
    »Was meinst du, wie soll dein Kostüm aussehen?«, fragt Vaclav wieder.
    Lena hört auf zu weinen und atmet mehrmals tief durch. Sie vergisst ihren Kummer, denn sie ist zu aufgeregt. Sie wird den goldenen Fransenbikini der Heather Holliday tragen.
    Das erste Mal, als Lena Heather Holliday sah, war sie gerade mal fünf, und es war auch das erste Mal, dass sie die berühmte
Coney Island Circus Sideshow
sah, das erste Mal, dass sie das Meer sah, das erste Mal, dass sie eine Achterbahn sah, und das |81| erste Mal, dass sie einen Hotdog aß, und es war das erste Mal, dass sie zu Vaclavs Haus ging, und das erste Mal, dass sie einen Freund hatte.
    Wie Vaclav Lena zum ersten Mal begegnete
    Lenas Tante Yekaterina beklagte sich ständig, dass sie auf Lena achtgeben musste und dadurch immer die guten Schichten verpasste, nämlich die Schichten, die das meiste Trinkgeld einbrachten, und das, weil sie Lena entweder aus dem Bett holen oder Lena ins Bett bringen oder Lena mit Abendessen versorgen musste. Eine jener Personen, bei denen sich die Tante beschwerte, war ihr Freund, dessen Job es war, Kisten hochzuheben und draußen rauchend im T-Shirt herumzustehen. Er machte diesen Job für das Sanitätshaus in der King’s Highway, wo Rasia in der Aufnahme saß. Der Freund der Tante kannte Vaclavs Mama und wusste, dass sie ein etwa fünfjähriges Kind hatte, im selben Alter wie Lena.
    Der Freund hatte das Gejammer der Tante satt und er hatte es satt, dass die Tante so gut wie kein Geld verdiente, und auch, dass Lena immer in der Wohnung herumhing und einem mit ihrer Stille im Weg stand, besonders wenn im Sommer keine Schule und Lena ständig zu Hause war. Also redete er mit Rasia, und sie arrangierten einen gemeinsamen Spielnachmittag.
    |82| Wie es für Vaclav war
    Rasia war froh, jemanden zum Spielen für ihren Sohn zu haben, der die gleiche Schule besuchte wie er, denn er war dort neu und hatte, gerade aus Russland angekommen, kaum Freunde. Genau genommen hatte er seit ihrer Ankunft in Amerika keinen Freund zum Spielen mit nach Hause gebracht, und sie war so aufgeregt, dass sie nach Hause eilte, um Vaclav die Neuigkeit sofort zu erzählen.
    »Vaclav. Mach Fernseher aus, ich habe dir etwas zu sagen.« Sie war noch nicht daran gewöhnt, mit ihrem Sohn nur Englisch zu reden. Die Entscheidung, zu Hause strikt Englisch zu sprechen, war leichtgefallen. Aber mit ihrem Sohn in einer ihr fremden Sprache zu sprechen war schwer. Und dass sie nicht immer die Worte für die Dinge fand, die sie sagen wollte, war besonders schwer, wenn sie ein Gespräch über etwas führen wollte, wofür ihr selbst im Russischen vielleicht die Wörter gefehlt hätten. Und selbst wenn sie aller Sprachen auf der Welt mächtig gewesen wäre, hätte sie ihrem Sohn womöglich immer noch nicht erklären können, was sie fühlte, und was sie fühlte, war ungefähr so etwas wie:
    Es tut mir schrecklich leid, dass du einsam bist und keine Freunde hast und andere Kinder dich komisch finden, und es tut mir so weh, als würde mir jemand die Haut abreißen und Säure darauf schütten, aber wir haben etwas getan, das sich am Ende als das Beste für dich herausstellen wird, und selbst wenn es dir niemals klar sein wird, wir sind uns dessen sicher, und wenn du uns anschaust und uns vorwirfst, wir hätten für |83| dich

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