Vaclav und Lena
die Faust und klopfte dreimal.
Sie erhielt keine Antwort. Lenas Klopfen war zu leise, so als hätte sie überhaupt nicht angeklopft. Sie könnte wieder fernsehen und so tun, als hätte sie sich das mit dem Klopfen niemals ausgedacht. Sie entfernte sich zwei Schritte, drehte sich rasch um und machte zwei schnelle Schritte nach vorn, der zweite war fast schon ein Sprung, und hämmerte an die Tür. Und hielt inne. Und lauschte. Nichts. Bum bum bum. Wieder nichts. Eins, zwei, drei, dachte Lena. Ah, ah, ah, ah, ah.
Sie liegt tot in der Badewanne, dachte Lena. Das beunruhigte Lena nicht sehr, denn sie wusste nicht genau, was »tot« bedeutete. Sie dachte daran, weil Radoslava immer wieder gesagt hatte: »Eines schönen Tages werden sie mich tot in der Wanne finden.« Lena hatte das mit »eines schönen Tages« nicht verstanden, dafür verstand sie jetzt etwas anderes. Lena war das »sie«, die Radoslava tot in der Badewanne finden würde. Vorher hatte sie sich immer gefragt, was das für Leute waren, die herumgingen und andere Leute tot auffanden oder die Leute einfach fanden und sie wegschickten oder die herumrannten und andere ausraubten, wer waren diese »sie«?
»Wenn Radoslava Dvorakovskaya tot ist«, dachte Lena, »kann |213| sie nicht wütend werden.« Also öffnete Lena die Badezimmertür. Das Wasser lief. Im Bad, wo es für gewöhnlich vom Wasser immer mollig warm war, war es jetzt kalt. Der pfirsichfarbene Duschvorhang mit braunem Schimmel, der von der Unterseite hochwuchs, war zugezogen, und Lena konnte nicht in die Dusche sehen. Der Spiegel war nicht beschlagen. »Der Spiegel beschlägt nur bei warmem Wasser«, dachte Lena. Sie schloss die Tür hinter sich.
Neben dem Badewannenrand ging Lena ganz vorsichtig in die Hocke. Mit einem Finger zog sie behutsam und ohne zu rascheln den Vorhang zu einem schmalen Spalt auf, durch den sie spähen konnte. Sie war übervorsichtig, falls Radoslava Dvorakovskaya nicht tot in der Wanne lag, falls sie noch lebte. Sie wollte nicht, dass Radoslava sah, wie Lena sie in der Dusche anschaute.
Das Erste, was Lena sah, war das Haar, das grau und glatt war und stellenweise fehlte. Zuerst dachte Lena, dass sie auf den Hinterkopf blickte, dass Radoslava nach unten auf den Wannenboden schaute, aber dann sah sie, dass es das Gesicht war, an dem ihr klatschnasses Haar klebte. Ihre Augen standen offen, aber sie schauten Lena nicht an, und etwas Haar bedeckte sie, sodass Lena das Gefühl hatte, Radoslava könne sie nicht sehen.
Lena schaute Radoslava sehr lange an. Radoslava blinzelte nicht und atmete nicht. Nach einer Weile räusperte Lena sich leise, doch Radoslava schien das nicht zu hören. Lena zog den Vorhang weiter zurück, und da begriff sie, dass Radoslava nichts mehr von dem sehen oder hören konnte, was sie tat.
Lena blickte auf sie hinunter. Sie sollte sie nicht so sehen. Lena wusste das, denn Radoslava Dvorakovskaya war nackt, und |214| sie war tot. Lenas Babuschka lag mit gespreizten Beinen in der Badewanne, und Lena konnte das dunkle Haar, das von ihren Oberschenkeln bis zum Bauch reichte, und die Haut mit ihren Hautfalten zwischen den Beinen sehen, und diese Haut war leicht violett oder bräunlich. Es war das Hässlichste, was Lena je gesehen hatte.
Lena schaute wieder in Radoslavas Gesicht, das unverändert war. Das Wasser prasselte auf Radoslavas Bauch und Brustkorb, dort wo ihre Brüste begannen, bevor sie jeweils zur Seite hin absackten, mit Brustwarzen, die groß und purpurrot waren und wie die Augen der Figuren in der
Sesamstraße
, wenn sie albern waren, in zwei Richtungen gleichzeitig blickten.
Aus der Wanne drang Toilettengeruch, und Lena bemerkte, dass dort Kacke gewesen sein musste, der größte Teil war allerdings bereits durch den Abfluss geschwemmt worden, außer ein paar großen Stücken, die nicht hindurch passten.
Nirgendwo war Blut zu sehen, so wie bei den Leuten im Fernsehen, wenn sie starben, und so war sich Lena bei der ganzen Sache unsicher. Vielleicht sollte sie das Wasser abstellen, dachte sie, aber das würde ihre Babuschka unter Umständen aufwecken, und dann würde sie ahnen, dass Lena das Haar zwischen ihren Beinen und ihrem Bauch gesehen hatte. Sie würde es den Nachbarinnen erzählen, und Lena hatte das Gefühl, das wäre peinlich. Lena verließ das Bad und schloss die Tür.
Als Mrs. Yoblokov um vier Uhr zum Tee auftauchte, saß Lena wieder viel zu nah vor dem Fernseher. Mrs. Yoblokov trat ohne Klopfen ein, sah Lena und fragte:
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