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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haley Tanner
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»Wo ist Radoslava?«
    »Ona mjortwaja w dushe«, sagte Lena. »Sie liegt tot in der Dusche.«
    |215| Wie heißt du, mein Schatz?
    Im nächsten Augenblick schrie Mrs.   Yoblokov auf, lief zum Badezimmer und drehte unter lautem Schreien das Wasser ab (»Was für eine Verschwendung!«). Von Radoslavas Telefon aus rief sie die 911 an und danach jeden, den sie kannte. Lena schaute weiter Fernsehen, während Mrs.   Yoblokov weinte und telefonierte. Schließlich erschien Mrs.   Yoblokov bei Lena, kniete sich neben sie auf den Boden und sagte »du armes Ding«, legte dann die Arme um sie, drückte sie an sich und sagte weinend auf Russisch: »Deine Babuschka, sie ist tot! Sie ist für immer tot! Du hast niemanden. Du hast niemanden!«
    An Mrs.   Yoblokovs parfümierten Busen gepresst, fühlte Lena sich wie gefangen. Sie wollte, dass Mrs.   Yoblokov sie freiließ, damit sie weiter fernsehen konnte.
    »Wo wirst du hinkommen? Was werden sie mit dir machen?«, jammerte Mrs.   Yoblokov.
    Lena sah weiter in einer ihr fremden Sprache fern und versuchte, Mrs.   Yoblokov nicht weiter zu beachten.
    Mrs.   Yoblokov schien zu glauben, dass der Rettungsdienst auf der Stelle kommen würde, und während sie schluchzend alle Nachbarinnen anrief, spähte sie durch den Türspion, um zu sehen, ob der Rettungsdienst nicht schon da wäre, und manchmal öffnete sie auch die Tür und starrte hinaus auf den Gang. Dort erklärte sie den Leuten, die sich auf dem Gang versammelt hatten, was passiert war und wie sie die Erste gewesen war, die Radoslava gefunden hatte, schließlich war sie Radoslavas engste Freundin gewesen.
    |216| Nach einer Viertelstunde wurde Mrs.   Yoblokov nervös und startete eine zweite Runde von Anrufen.
    »Soll ich dir was sagen? Sie sind immer noch nicht da, um die Leiche abzuholen. Sie verrottet da drin in der Badewanne. Fünfzehn Minuten schon. Es ist furchtbar. Was für eine Schande.«
    Nach dreißig Minuten war noch immer keiner da.
    »Nein, nur ich und das kleine Mädchen in der Wohnung mit dieser Leiche, die einfach so rumliegt. Nein. Ich glaube nicht, dass sie wirklich versteht, was passiert. Nein, sie hockt vor dem Fernseher. Ich glaube, etwas stimmt mit dem Mädchen nicht. Wir sind hier mit der Toten eingesperrt, das kann nicht gut sein, sie so verrotten zu lassen. Verrotten! Ich halte das nicht mehr aus.« Mrs.   Yoblokov sagte das auf Russisch und in unmittelbarer Hörweite von Lena.
    Nach zwei Stunden wurde Mrs.   Yoblokov hysterisch. Sie schrie ins Telefon, in der Luft könnten sich Krankheiten verbreiten, und sie schrie ins Telefon, sie könne den Verfall riechen. Lena bemerkte keinen Geruch. Mrs.   Yoblokov klagte auch, sie habe einen Nervenzusammenbruch, der Tag sei einfach zu traumatisch für sie gewesen. Dann ging sie.
    Nach drei Stunden, als endlich die Rettungssanitäter eintrafen, öffnete Lena die Tür und zeigte aufs Bad. Dann ging sie in Radoslavas Schlafzimmer und nahm aus der obersten Schublade des Nachttisches den Umschlag. Der Umschlag enthielt Radoslavas Testament. Radoslava hatte Lena eingeschärft: »Gib ihnen den Umschlag, wenn ich endlich dahinscheide, wenn mein Leiden vorbei ist.« Lena dachte, dass die Rettungssanitäter »sie« sein könnten, die Leute, die kommen und feststellen, |217| dass man tot ist. Vielleicht war es auch nicht »sie« gewesen, die Radoslava hätten finden sollen, denn anscheinend wussten die Männer, was zu tun war. Sie redeten sehr viel und hatten Geräte und ein Metallbett auf Rädern.
    Lena händigte einem von ihnen den Umschlag aus, aber der war gerade am Telefon und sagte deshalb in sein Gerät: »Warte einen Moment.«
    »Wie heißt du, mein Schatz?« Er hatte die Frage auf Englisch gestellt, und Lena starrte zuerst ihn an und dann den Boden, weil sie nichts verstanden hatte. Der Mann wandte sich wieder seinem Telefon zu.
    »Sie spricht nicht. Ich würde sagen, um die fünf, vielleicht vier. Sie ist klein. Nein. Allein in der Wohnung. Okay. Wir bleiben so lange hier? Okay.« Dann beendete er das Gespräch und lächelte Lena an.
    »Gleich kommt jemand und redet mit dir, mein Schatz«, sagte er lächelnd. Dann ging er mit den beiden anderen Männern in das Bad zurück, und Lena setzte sich wieder vor den Fernseher.
    Lena konnte die Geräusche der Männer im Bad hören. Sie fragte sich, wie sie Radoslava aus der Wanne heben würden, nicht weil sie so groß, tot und nass war, sondern weil sie nackt war. Lena konnte sich nicht vorstellen, wie jemand eine

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