Vaethyr: Die andere Welt
besser werden.
»O mein Gott, du bist zurückgekommen!«, sagte Sam, dessen Gesicht sich vor Freude und Überraschung erhellte.
Rosie setzte sich und sah ihn über den Tisch hinweg an. Dabei versuchte sie die unheimliche Verwandlung des Raums zu ignorieren. Es sah aus wie das Set für einen gruseligen Horrorfilm, glühend und bombastisch. Jedes Mal, wenn die trostlose Moderne durchschimmerte, zuckte sie zusammen. »Ich sage es dir lieber gleich, ich bin nur hier, weil dein Vater mich darum gebeten hat.«
»Aha. Dann ist er wohl ebenso überzeugend wie Jon?«
»Er macht sich Sorgen um dich. Ich muss ihm von meinem Besuch berichten. Und er bezahlt mich dafür.«
Sein Lächeln zuckte. »Dann bist du also eine Spionin und nimmst Geld dafür. Gut, dass wir das schon mal geklärt haben.«
»Ich will nur aufrichtig sein, damit du mich, wenn du willst, wegschicken kannst«, schnauzte sie ihn an. Er sagte nichts, aber sein Grinsen wurde schmal und boshaft. »Oh … warte mal … du hast da die Finger im Spiel, nicht wahr? Du weigerst dich absichtlich, Lawrence zu sehen, damit du mich hierherbekommst.«
»Findest du das nicht schmeichelhaft?«
»Du bist doch krank! Das ist kein Spiel. Er ist wirklich verzweifelt, auch wenn er versucht, es zu verbergen.«
»Nun«, sagte Sam und stützte sich auf seinen Ellbogen, »kann es sein, dass du deine Reize dann doch etwas überschätzt? Die Wahrheit ist nämlich, dass ich ihn wirklich nicht hier sehen möchte, weil er so schon verrückt genug ist und mich nur nervt. Danke für deine Aufrichtigkeit. Du hast meine Erlaubnis, zu ihm zurückzukehren und ihm zu sagen, dass es mir ausgezeichnet geht.«
Sie schwiegen eine Weile, ohne sich anzusehen. Schließlich ergriff Sam das Wort: »Da du nun schon mal den weiten Weg auf dich genommen hast, könnten wir doch wenigstens eine Tasse Tee miteinander trinken und so tun, als würden wir uns unterhalten wie zwei zivilisierte Menschen.«
»Natürlich.« Sie versuchte sich zu entspannen. »Ich brauche da nicht so zu tun.«
»Nein, ich wette, das musst du nicht.« Er hob erwartungsvoll die Brauen. Sie blickte ihn ungerührt an, bis er den Kopf schüttelte und sagte: »Also gut, ich werde anfangen. Was gibt es Neues?«
»Nun, mein Bruder wird heiraten.«
»Der Nette oder der blonde Mistkerl?«
»Matthew meine Freundin Faith.«
Sein Gesicht leuchtete dämonisch auf. »Faith, das kleine schielende Straßenkind?«
»Mein Gott, bist du ein widerlicher Kerl, Sam.«
»Nein, ich bin nur aufmerksam. Das ist ja furchtbar. Er wird sie umbringen.«
»Wie bitte?«
»Bildlich gesprochen. Ja, das passt. Er braucht jemanden, aus dem er das Leben herauspressen kann. Die Arme … Was?«, sagte er, als er ihren Gesichtsausdruck las. »Sorry, ich versuch’s noch mal. Was für wunderbare Neuigkeiten, richte ihnen meine Glückwünsche aus.«
»Danke«, sagte sie zähneknirschend.
»Was gibt es sonst noch?«
»Wenn du so darauf reagierst, erzähle ich dir nichts mehr.«
»Entschuldige. Meine Mund-Gehirn-Koordination ist nicht die beste.« Mit eindringlichem Blick fragte er sie: »Wo wärst du denn, wenn du nicht hier wärst?«
»Auf dem College«, antwortete Rosie.
»Und was würdest du da machen?« Das klang nach echtem Interesse, doch immer schwang dabei ein Unterton mit, als würde er auf ihre Kosten sein Spiel mit ihr treiben. Freundlich hinter einer grausamen Maske oder grausam hinter einer freundlichen Maske.
»Heute würden wir im Gewächshaus arbeiten. Setzlinge eintopfen, Wurzeln beschneiden, was in der Art.«
»Ich hatte in dir immer eine Künstlerin vermutet, vielleicht auch eine Psychologin. Aber du arbeitest gern mit deinen Händen, nicht wahr?« Ein leichtes Anheben seiner Braue.
»Ja, das tue ich. Es ist so echt und lohnend.«
»Pflanzen geben keine Widerworte, was?«
»Ja.« Rosie musste lächeln. »Jedenfalls nicht in der Oberflächenwelt.«
Sam grinste. Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal mit ihm über einen Scherz gelacht zu haben. Und diese unvermittelte Intimität beunruhigte sie. »Es ist jedenfalls nett von dir, dass du gekommen bist, egal aus welchen Gründen.«
»Was ich dir das letzte Mal erzählt habe … hast du mit deiner Familie gesprochen?«
Sam verschränkte die Arme und senkte seinen Blick. Seine Ärmel waren aufgerollt. Rosie kam nicht umhin, seine schön geformten Unterarme und die kräftigen Hände mit den langen Fingern zu bemerken. Da sollte sie lieber nicht hinsehen. »Ich habe meinen Vater
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