Vaethyr: Die andere Welt
sofort am Telefon zur Rede gestellt und er hat mir die Wahrheit gesagt. Oder jedenfalls seine Version davon. Das ist doch verrückt, oder? Dein Bruder ist auch mein Bruder. Ich kann das noch immer nicht glauben. Doch das ist wieder mal absolut typisch für meinen Vater.«
»Was, dass er Affären hat?«, entrüstete sich Rosie wegen ihrer Mutter.
»Nein – dass er das Leben anderer Leute zerstört. Ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern. Vielleicht habe ich das daher.«
Es war eine hingeworfene Bemerkung, Teil seiner Maulheldenmaske, die sie so gegen ihn aufbrachte. »Ich weiß nicht, was meine Mutter sich dabei gedacht hat, aber ich habe die Vermutung, dass dein Vater meinen verachtet, weil meiner mit seinem Leben zufrieden ist, deiner jedoch nicht. Und diese Zufriedenheit wollte Lawrence ihm wohl nehmen. Aus Eifersucht, Rache oder sonst etwas. Doch es hat nicht geklappt.
»Hat es nicht? Kein bisschen?«
»Nein«, sagte sie entschieden. »Nicht auf lange Sicht.«
»Aber es hätte doch nicht gleich zu einem Kind kommen müssen«, sagte Sam und legte seine gefalteten Hände auf die Tischkante. »Bei uns gibt es keine Unfälle. Das hat dir deine Mutter doch sicherlich erzählt?«
»Natürlich.« Ihre Augen wurden schmal. Sie fühlte sich unwohl dabei, weibliche Weisheit aus Sams Mund zu hören.
»Dann war Lucas also kein Unfall«, fuhr Sam fort. »Sie wollten ihn bekommen. Oder … sie konnten ihn nicht aufhalten.«
»Um Himmels willen«, sagte Rosie. »Bei dir hört sich das an wie eine Verschwörung aus der Anderswelt. Das war es mit Sicherheit nicht. Du glaubst doch nicht, dass die Geburten von Elfenwesen vorherbestimmt sind?«
Achselzuckend und mit einem spöttischen Funkeln im Auge sagte er: »Nicht wirklich.«
»Nein«, sagte sie. »Ich habe Mum gefragt, aber sie konnte mir darauf keine Antwort geben. Als hätte sie eine Vorahnung von Lucas gehabt und es deshalb geschehen lassen. Wir würden auf ihn nicht verzichten wollen.«
»Ich finde es echt süß, wie du die Dinge immer ins beste Licht rückst. Bloß gut, dass er sich nicht als das schwarze Schaf der Familie entpuppt hat.«
»Sag jetzt bloß nicht, dass du eifersüchtig bist auf Lucas«, giftete sie ihn an.
Er hielt inne und seine Miene verdunkelte sich. »Gut möglich, dass ich Grund dazu habe. Dad bekommt einen strahlenden neuen Sohn und ich hocke hier in diesem Dreckeimer fest. Und Jon schafft es nicht, hierherzukommen und mich zu besuchen, weil er viel zu beschäftigt mit seinem tollen neuen Bruder ist.«
»Nähern wir uns jetzt dem wahren Grund, weshalb du so verbittert und verquer bist?«
»Ich hab noch gar nicht angefangen«, erwiderte Sam und schnitt eine Grimasse. »Aber ich werde dir sagen, was ich wirklich beklemmend finde.« Er beugte sich vor. Seine blaugrünen Augen sahen sie unerbittlich an. »Wenn ich sehe, wie Leute sich in der Hoffnung auf Jons Freundschaft kaputtmachen.«
Rosie wich zurück. »Was soll das denn heißen?«
»Weißt du, du und Lucas, ihr seid nicht die ersten. Sein ganzes Leben lang haben sich Leute in ihn verliebt, sein Problem ist nur, dass ihm das schnurzegal ist. Er bemerkt es nicht einmal. Auf Planet Jon ist nur Platz für eine Person und das ist Jon.«
Sie riss den Mund auf, als hätte er ihr einen Tritt verpasst. »Ich finde es unglaublich, dass du so über deinen eigenen Bruder denkst.«
»Ich sage nur die Wahrheit.«
»Hasst du ihn denn tatsächlich so sehr?« Sie rückte innerlich von ihm ab, denn ihr Misstrauen in Sam hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht. »Das ist ja unglaublich. Kein Wunder, dass deine Familie verrückt ist. Ihr hasst einander alle, nicht wahr?«
Sam lehnte sich zurück, sein Bick ließ sie erstarren. »Wow«, sagte er trocken. »Das sind ja tolle Schlussfolgerungen, die du da ziehst.«
»Nach mehrjähriger Beobachtung.«
»Tja, du liegst völlig falsch«, sagte er. »Ich hasse Jon überhaupt nicht. Ich liebe diesen Blödmann. Aber weißt du, wenn man an einem Internat wie ein Renaissance-Engel herumschwebt und Spenser und Tennyson rezitiert, dann zieht man die falsche Art von Aufmerksamkeit auf sich. Man wird windelweich geprügelt. Man wird von den großen Jungs aus der Oberstufe gepiesackt und die lassen kein Nein gelten. Du wirst nach dem Unterricht noch von Lehrern dabehalten, die nur noch einen Grapscher davon entfernt sind, mit Schimpf und Schande von der Schule zu fliegen. Und so weiter.«
Sam hatte sie so schockiert, dass es ihr die Sprache verschlug. Nachdem
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