Vaethyr: Die andere Welt
Antworten war er wie ein mystischer Schamane. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Die letzte Nacht war grauenhaft – ich habe Dinge gesehen, die so real waren, so schrecklich … Als ich dann wieder zurückkam, sah ich Jon an und mir wurde klar: Der Grund, weshalb er durch die Tore flüchten möchte, und der Grund, weshalb er Drogen nimmt, ist ein und derselbe. Er ist innerlich leer. Und er hat mich mitgerissen. Heute Morgen sah ich ihn an und sagte mir: Ich kann das nicht mehr. Wenn wir so nicht weitermachen, liegen wir beide in einem Jahr tot in der Gosse. «
Lucas weinte und wandte sich von ihr ab. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und zog sein Gesicht an ihre Schulter. »Nicht doch. Er ist es nicht wert«, sagte sie.
»Aber du liebst ihn doch.«
»Nein, ich liebe ihn nicht, Luc. Nicht mehr.«
»Warum weinst du dann?«
»Ich weine deinetwegen, du Trottel«, sagte sie.
Er löste sich von ihr und wischte sich seine Wangen mit der Hand ab, bis sie nach einer Schachtel Taschentücher griff und ihm eins gab. »Es gibt diese Fantasievorstellung, dass du, wenn du deinem Seelenkameraden begegnest, weißt , dass er es ist«, sagte sie. »Als ich Jon sah, glaubte ich es zu wissen , aber ich lag völlig falsch. Und das hat nichts mit seinem Verhalten zu tun. Hätte er meine Liebe erwidert, hätte ich ihm zweifellos sogar einen Mord durchgehen lassen.«
»So wie ich?«, warf Lucas ein.
»Ja, mein Lieber. Doch ich bin zum Glück heil davongekommen. Am Ende haben wir ihn durchschaut, aber es tut weh.« Luc nickte. In einem kurzen heftigen Ausdruck von Schmerz schloss er die Augen. Sie forderte ihn sanft auf: »Willst du mir vielleicht von deiner Vision erzählen?«
»Ja. Nein. Es war … es schien real zu sein, aber …« Ein heftiger Schauder erfasste ihn. »Ich will es einfach vergessen, Ro. Könnte ich was zu trinken kriegen und mich vielleicht duschen?«
Sie schickte ihn ins Badezimmer und kochte Kaffee. Als er in einem Hemd und schlabberigen Jeans von Alastair zurückkam, war er wieder gefasster. »Jon ist nicht nur schlecht«, sagte er. »Er hatte … er hatte es schwer. Ich hätte ihn nicht mit Lawrence allein lassen dürfen. Hoffentlich geht es ihm gut.«
Als Rosie aufblickte, sah sie, wie sich vor dem Fenster etwas bewegte und ein gequältes Gesicht zu ihr hereinschaute. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. »Ich denke, davon kannst du dich gleich selbst überzeugen.«
Jon stand auf der Schwelle, ein gehetzter Flüchtling. Er hatte seine Arme um seinen Körper geschlungen und schaute ständig über seine Schulter. Er roch nach feuchtem Gras und Lagerfeuern. »Ist Lucas da?«
»Ja«, sagte Rosie kühl. »Und zum Glück lebt er noch.«
»Ich muss ihn sehen. Bitte.«
Seufzend machte sie Platz und ließ ihn eintreten. Sie verfolgte benommen von der Türe aus, wie Jon auf das Sofa zutaumelte und sich dort neben Luc warf. »Ich habe mir ein Taxi genommen. Und deine Mum wegen der Adresse angerufen. Ich habe mir gedacht, dass du hier bist. Weißt du nicht mehr weiter, lauf zu Rosie.«
»Nichtsnutziger Mistkerl«, grummelte Lucas leise.
»Ich?«, wunderte sich Jon. »Du warst doch derjenige, der davongerannt ist!«
»Wirfst du mir das jetzt vor? Reicht es nicht, dass du mich vergiftet hast und uns beinahe umgebracht hättest.«
»Bist du wirklich wütend auf mich?« Jon war aschfahl.
»Diese verdammte Raucherei«, sagte Lucas. »Nein, ich bin bloß froh, dass du okay bist. Ich dachte nämlich, Lawrence würde uns beide umbringen.«
»Ich auch.« Sie umarmten sich wie Schiffbrüchige. Dann zog Jon seine Füße hoch und setzte sich ungeachtet seiner dreckigen Stiefel im Schneidersitz auf die Sitzpolster. »Er hat mich rausgeworfen. Mein Vater hat mich rausgeworfen!« Er legte seinen Kopf in seine Hände.
Rosie stand mit verschränkten Armen vor ihnen. Gern hätte sie die beiden wie eine wütende Mutter angeschrien, tat es aber nicht. Sie waren beide in einer derart schlimmen Verfassung, dass Worte nichts gebracht hätten.
»Ich werde euch was zu essen machen«, sagte sie. »Ihr seht beide aus, als wärt ihr am Verhungern.«
»Danke, und darf ich dich um einen Gefallen bitten, Ro?«, sagte Lucas. »Dürfen wir eine Weile hierbleiben? Ich könnte Mums Fürsorge jetzt nicht ertragen.« Er und Jon sahen sie erwartungsvoll an.
»Du schon, Luc«, antwortete sie ruhig. »Aber Jon will ich hier nicht haben.«
»Aber wo soll er denn hin? Bitte.«
Plötzlich fühlte sie sich in der Rolle der Aufpasserin für
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