Vaethyr: Die andere Welt
zuglitt.
Später traf Rosie ihre Mutter allein an Lucas’ Bett an. Sie hielt seine leblose Hand umklammert und betrachtete forschend das leere, verschlossene Gesicht. Rosie zog einen Stuhl heran und begann sanft das Haar ihrer Mutter zu kämmen. Über Nacht war die naturblonde Mähne zu einem zerzausten Gewirr geworden. Jessica sagte nichts. Man hörte nur das monotone dumpfe Geräusch der Herz-Lungen-Maschine.
»Ich bin dir eine Menge Erklärungen schuldig, Mum«, begann Rosie. »Jetzt ist natürlich nicht der richtige Zeitpunkt dafür, das weiß ich, aber du wirst dich sicherlich fragen, wie es zu alldem gekommen ist. Du wirst mich bestimmt für verrückt halten, dass ich mit Sam zusammen bin … ich schwöre dir, dass ich in einer Million Jahren niemals damit gerechnet hätte … Mum?« Noch immer keine Antwort. Rosie fühlte sich noch elender. Wie konnten ihre Eltern ihr je verzeihen? »Bitte, sag was. Selbst wenn du wütend bist. Ich kann dieses Schweigen nicht ertragen.«
Jessica wandte sich ihr zu und sagte in einem gebrochenen Flüstern: »Ich kann nicht. Ich habe meine Stimme verloren.«
»Oh.« In ihrer Kehle machte sich ein schreckliches Gefühl breit – der Drang, zu lachen. Vor Anstrengung, dem entgegenzuwirken, zogen sich ihre Mundwinkel nach unten.
»Das ist nicht lustig, Rosie.« Die Haut um Jessicas Augen zog sich zusammen und sie teilte einen Moment verzweifelter Heiterkeit. Sie legte eine Hand an ihre Kehle. »Es tut weh.«
»Weswegen hast du sie verloren? Wegen des Schocks?«
»Vermutlich«, flüsterte ihre Mutter mühsam. »Wir reagieren alle auf unsere eigene Art. Auberon ist stoisch. Matthew dreht durch. Ich verliere meine Stimme.«
»O Gott. Ich fühle mich so schrecklich und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Nicht jetzt.« Jessica schüttelte den Kopf. »Ich bin die Letzte, die dich verurteilt. Jetzt zählt nur noch Lucas. Würdest du mir einen Gefallen tun?«
Rosie band das Haar ihrer Mutter zu einem Pferdeschwanz zusammen und strich die Haarsträhnen zwischen ihren Schultern glatt. »Was du willst.«
Das angestrengte Flüstern war so leise, dass Rosie sich dicht über sie beugen musste, um es zu verstehen. »Geh nach Oakholme. Vergewissere dich, dass es Matt, Faith und Heather gut geht. Und ruh dich aus.«
Auf der nächsten Krankenstation traf sie Sam, der bei Jon am Bett saß. Jon saß aufrecht da und sah nicht anders aus als in der letzten Nacht: bleich, müde und besorgt. Rosie zog sich einen Stuhl an seine andere Bettseite und begann mit den üblichen Höflichkeiten – wie fühlte er sich, hatte er Schmerzen, hatte er was gegessen?
»Hör auf mit dem Theater, Rosie«, sagte Jon mit einem Anflug von bitterem Humor. »Mir geht es gut.«
»Ich habe mit Sam gesprochen«, konterte sie schlagfertig.
Sam grinste trotz seiner ziemlich verfärbten und geschwollenen Lippe. Jon verdrehte nur kurz die Augen zur Decke. »Hast du Lucas gesehen?«, fragte er.
»Ja, sein Zustand ist unverändert. Keine Besserung.«
Er nickte gequält. »Ich werde bald zu ihm gehen und bei ihm wachen. Sollte ihm irgendwas zustoßen … Ich will ohne ihn nicht hierbleiben.«
Sam und Rosie sahen sich über das Bett hinweg an. »Fang jetzt nicht damit an, du Idiot«, sagte Sam. »Du lebst. Und er auch. Muss ich jetzt vielleicht noch den Refrain von ›Always Look on the Bright Side of Life‹ singen?«
»Bitte nicht.« Dabei huschte ein Lächeln über Jons Gesicht.
Rosie meinte zögernd: »Jon, erinnerst du dich, dass du bei deinem ersten Besuch bei Luc davon sprachst, er sei in die Spirale gegangen? War das nur so dahergesagt oder meinst du, er könnte tatsächlich …?«
»Deine Leute haben dich doch wohl aufgeklärt, oder?« Jon machte eine Pause. »Es heißt, wenn Elfenwesen sterben, bedeutet dies nicht, dass sie für immer gegangen sind. Es bedeutet, dass wir uns verändern. Wenn der Körper tot oder fast tot ist, reist das Seelenwesen ins Herz der Spirale … aber nachdem die Großen Tore geschlossen sind, bin ich mir nicht sicher, ob wir das können. Aber ich bin davon überzeugt, dass Lucas tatsächlich durchgekommen ist, in irgendeiner Form. Und da Lucas jetzt im Koma liegt, könnte das bedeuten, dass sein Seelenwesen dorthin geflohen ist und nicht mehr zurückkommen möchte.«
»Oder nicht zurückkommen kann«, sagte Rosie. Sie schaute Sam an, der sie besorgt und fragend ansah. »Was die Tore betrifft, Jon«, fuhr sie fort, »Lucas hat mir erzählt – als du am Freitagabend aus
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