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Vaethyr: Die andere Welt

Vaethyr: Die andere Welt

Titel: Vaethyr: Die andere Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Warrington
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übertreffen«, sagte sie mit einem heimtückischen Grinsen, das Sapphire endlich zum Schweigen brachte. »Sagen Sie mir, was Sam oder sonst irgendwer tun könnte, um mir mehr Schmerz zuzufügen als den, den ich gerade durchmache?«
    Rosie stand in der Leichenhalle und betrachtete Alastairs Körper, der auf der flachen Stahlschublade lag. Sein Gesicht bestand nur noch aus Schnitten, Schorf und geschwollenem Fleisch, aber die aufgerissenen Ränder waren wie eingetrocknete Zitronenschalen zusammengeschrumpft. Seine Haut war ein abstraktes Kunstwerk aus Blauund Violetttönen und wächsernem Gelb. Ein widerlicher Gestank von Chemikalien hing in der Luft. Man hatte sie gewarnt, dass die Verletzungen sehr schlimm waren und sie seinen Anblick als verstörend empfinden könnte oder ihn vielleicht gar nicht wiedererkennen würde. Doch das tat sie.
    »Hast du mich wirklich so sehr geliebt, dass du lieber sterben als mich verlieren wolltest?«, murmelte sie. »Denn das glaube ich dir nicht. Aber was war es dann? Verletzter Stolz? War es das wert?«
    Erinnerungsfetzen an die vergangene Nacht verfolgten sie: die stoischen Gesichter ihrer Eltern, als ihre Tante vergeblich versuchte, sie zum Heimgehen zu überreden; Rosie, die mit ihrem Kopf auf Auberons Knie versuchte, quer auf den Stühlen ein wenig zu schlafen. Lawrence, der irgendwann aufbrach – nicht dass sie ihn hätte gehen sehen, aber sie spürte seine Abwesenheit, als wäre der Schatten eines aufrecht stehenden Steins verschwunden.
    Das trostlose Erwachen um sechs Uhr morgens von einer Tasse Kaffee aus dem Automaten, dann die Entdeckung, dass Sam ihn geholt hatte. Er hatte Lawrence und Sapphire nach Hause gebracht und war dann sofort zurückgekommen.
    Endlich die Erlaubnis, Lucas zu sehen.
    Keine Veränderung.
    Das war der schlimmste Moment überhaupt. Die ganze während der Nacht aufgebaute Hoffnung, nur um wieder zunichtegemacht zu werden. Die fürchterliche Blässe auf dem Gesicht ihrer Mutter … Lucas war stabil. Das war das Beste, was die Ärzte ihnen sagen konnten. Doch ohne lebenserhaltende Maßnahmen war er noch immer faktisch tot.
    »Wie kannst du das, was ich getan habe, damit vergleichen?«, fragte Rosie Alastairs teilnahmslose Totenmaske. »Kaputte Ehen überlebt man. Davon geht die Welt nicht unter. Warum hast du einen Weltuntergang daraus machen müssen?«
    »Rosie«, sagte Sam, der plötzlich hinter ihr stand. »Du solltest nicht allein hier sein.«
    Sie drehte sich um. Er schloss sie in seine Arme. Seine Brust fing das ganze Gewicht ihres Kummers und ihrer Wut auf.
    »Ich war nicht allein«, sagte sie schließlich und deutete auf den freundlichen Angestellten, der ein paar Schritte weit entfernt stand und diskret vorgab, nichts mitzubekommen.
    »Eigentlich hatten wir uns heute im Pub treffen wollen«, sagte Sam voller Bedauern. »Aber der Green Man ist das hier nicht.«
    Sie seufzte. »Ich kann nicht begreifen, warum er es getan hat. Das Leben geht doch weiter, warum wollte er das nicht sehen?«
    »Ich weiß es nicht, mein Schatz. Es gibt Leute, die werfen ihr Spielzeug aus dem Laufstall und denken bloß »Hoppla«, wenn dann alles irreparabel kaputt ist. Komm mit.«
    Sie zögerte. »Ich kann es nicht glauben, dass er nie mehr hereinkommt und seine Rugbyausrüstung auf den Boden fallen lässt, wie er das immer tat. Mit zerzausten Haaren ins Büro gestürmt kommt und fragt: ›Lust auf ein Curry?‹ Mit Matthew Witze macht. Ganz normale Sachen. Ich wollte ihm nie etwas Böses.«
    »Das wissen wir doch alle.«
    »Aber sie werden uns immer ansehen und uns dafür verantwortlich machen, auch wenn sie es gar nicht wollen. Warum hat er versucht Lucas zu töten und nicht mich?«
    »Oder mich?«, sagte er.
    Sie schaute auf ihre Stiefelspitzen. Aufrecht stehen fiel ihr schwer, so sehr drückte sie die Last ihres Elends. »Ich schäme mich so.«
    »Sag das nicht, Rosie«, murmelte Sam.
    »Was sollen wir tun?«
    »Praktische Dinge. Frühstücken. Du wirst deiner Mutter keine Stütze sein, wenn du umkippst. Schichten organisieren, damit jeder mal zum Schlafen kommt und immer jemand bei Luc ist. Das ist alles, was wir tun können, nicht wahr? Komm.«
    »Danke«, sagte Rosie zu dem Angestellten.
    Er nickte und schlug das weiße Laken wieder zurück, um den Kopf der Leiche zuzudecken. Rosie ließ sich von Sam führen, er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Doch selbst durch zwei Türen hindurch hörte sie das geölte Zischen, als die Schublade wieder

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