Vaethyr: Die andere Welt
einverstanden.«
Sam, der sehr blass aussah, sagte: »Als Torhüter hätte Dad doch ohnehin nicht auf Dauer im Ausland leben können …«
»Das bedeutete nicht, dass ihr ihm gleichgültig gewesen wärt«, sagte Ginny und berührte seine Hand. »Das darfst du nicht denken. Nein, es war seine Pflicht als Torhüter, vor der er fliehen wollte. Das konnte er natürlich nicht, aber er verübelte es mir sehr, dass ich ihn ständig mit dieser Wahrheit konfrontierte. Und ich hasste ihn dafür, dass er meine Ängste nicht verstand, obwohl er sie besser hätte verstehen müssen als jeder andere. Das war das Problem, Sam. Auf uns beiden lag ein ähnlicher Fluch, doch wir weigerten uns, das anzuerkennen. Wir waren beide verbohrt.«
Sam runzelte die Stirn und sah sie aus schmalen Augen an. »Er ist wahnsinnig paranoid. Er behauptet, es gäbe eine gewaltige Kraft, die nur darauf warte, die Tore zu durchbrechen und uns zu zerstören. Manche glauben ihm, manche nicht.«
»Diese Dunkelheit trug er schon immer mit sich herum.« Ginnys blickte wanderte nach unten und zur Seite. »Und sie trieb mich weg. Hätte ich jedoch gewusst, dass ich hier gefangen sein würde, wäre ich niemals hergekommen.«
»Aber er muss doch vermutet haben, dass du hier warst, als er das Tor versiegelt hat? Dieser Mistkerl!«
»Er wird seine Gründe gehabt haben.«
»Er hat versucht, dich zu finden, dessen bin ich mir sicher«, sagte Rosie. »Er war bestimmt am Boden zerstört, konnte das aber einfach nicht zeigen.«
»Ich liebte ihn«, sagte Ginny schlicht. »Ich verließ ihn, weil ich nicht mehr weiterwusste. Doch es sollte nicht auf Dauer sein.« Sie schauten einander an. Nach einer Weile senkte sie ihren Blick und fragte zärtlich: »Und was ist mit dir, Sam? Sieh dich an, ein feiner, kräftiger Mann bist du geworden. Wie geht es dir, was ist passiert? Erzähl mir alles.«
»Meine Güte, wo soll ich da anfangen?« Er seufzte. Rosie sah, wie seine Schultern unter der Last der Erinnerung absackten. »Können wir nicht stattdessen ein paar nette Cole-Porter-Songs singen?«
»Nein, können wir nicht.«
»Soll ich euch allein lassen?«, fragte Rosie vorsichtig.
»Nein, Rosie, geh nicht.« Sam ergriff ihre Hand. »Die Wahrscheinlichkeit, dass sie mich prügelnd hier durch den Raum jagt, ist geringer, wenn du dableibst.«
»Schade. Das wäre sicher sehenswert gewesen«, sagte Rosie.
Ginny musterte sie mit hochgezogener Braue. »Ihr zwei seid ein Paar, sehe ich das richtig?«
»Äh«, sagte Sam und warf einen Seitenblick auf Rosie. »Ich arbeite daran.«
Rosie biss sich auf die Lippe und errötete. »Das ist der Grund, weshalb wir in diesem Schlamassel stecken.«
Eine oder zwei Stunden später führte Ginny sie durch einen Bogengang in einen kleinen Durchgang, von dem zwei Räume abgingen. Vor den Eingängen gab es keine Türen, nur schwere Vorhänge. Sie zog einen dieser Vorhänge für sie beiseite, gab beiden einen Gutenachtkuss und war verschwunden.
»Meine Mutter«, flüsterte Sam. »Ich habe meine Mutter gefunden. Habe ihr alles erzählt und sie spricht noch immer mit mir.« Er strahlte vor Freude.
»Ich mag sie«, sagte Rosie. »Ihre gallige Art gefällt mir. Jetzt weiß ich wenigstens, woher du sie hast.«
Der Raum war sonderbar und schien dem äußeren Umriss des Hauses in keiner Weise gerecht zu werden. Er war fast dunkel, getaucht in einen mitternachtsblauen Schimmer, Wände und Decke blieben im Schatten. Der Fußboden fiel zum anderen Ende leicht ab und war mit einem dicken, trockenen Teppich aus moosigen Wedeln ausgelegt. Es gab keine Möbel, nur in der Mitte eine gepolsterte Vertiefung.
»Ich nehme an, das ist das Bett«, sagte Sam. »Irgendwie freudianisch, oder? Sieht aus wie ein Mund oder … so.« Er ließ den Rucksack fallen und zog seine Stiefel aus. Rosie machte dasselbe und spürte den Teppich warm und weich unter ihren Füßen. Ein schwacher Lichtschein in der Wand zu ihrer Rechten verlockte sie, diesem nachzugehen.
Sie entdeckte einen schmalen, gewundenen Durchgang in weichem Dämmerschein, der zu einer kleinen Höhle führte. Über die glatt polierten Kalksteinwände ergoss sich ein Quell, der durch ein Loch in einen unterirdischen Flusslauf verschwand. Offenbar ein elfisches Badezimmer. Sie machte Gebrauch von dem Loch – in der Hoffnung, dass es für diesen Zweck vorgesehen war –, zog sich dann aus und duschte unter dem eiskalten Wasserfall. In einer Spalte im Fels steckten Unmengen trockenes Grünzeug, das man in
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