Vaethyr: Die andere Welt
reden.«
Er wandte sich zum Gehen, aber Matthew fragte leise und unwirsch: »Sam? Geht es ihnen gut?« Sein Gesicht war fleckig vor Müdigkeit und Verwirrung.
»Ja. Sie sind an einem sicheren Ort und es geht ihnen gut. Ob sie gefunden werden wollen, ist eine andere Sache. Möchtest du, dass ich in Oakholme anrufe?«
»Nein! Nein. Ich möchte nicht, dass sie mich so sehen.« Matthew ließ den Kopf hängen und schlug die Hände davor. Zwischen seinen Fingern quollen Tränen heraus. »Diese Bestie, die von mir Besitz ergreift – ich halte das nicht aus.«
Sam reichte ihm ein Papiertuch. »Das sehe ich. Seit wann weißt du es denn?«
Matthew tupfte sich das Gesicht ab und zerzupfte dann das feuchte Papiertuch. »Ich muss wohl sieben oder acht gewesen sein … ich tauchte in die Schattenreiche ein und die Veränderung ging ganz einfach vor sich – die Welt wurde dunkel und seltsam wie ein Traum. Anfangs hatte ich gar keine Angst, aber als ich älter wurde, nahm das Entsetzen zu – weil es sich falsch anfühlte und es sich meiner Kontrolle entzog.«
»Hat Auberon dir nicht gesagt, dass das zum elfischen Wesen dazugehört?«
»Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen. Dazu war mein Entsetzen viel zu groß. Stattdessen lernte ich die Schattenreiche zu meiden. Und versuchte auch Luc und Rosie davon fernzuhalten.«
»Aber wir neigen alle dazu, uns in etwas anderes als unser Alltags-Selbst zu verwandeln. Manche verändern sich nur ganz wenig, andere sehr. Andere Realitäten offenbaren andere Aspekte von uns. Das ist offensichtlich ganz normal.«
»Normal?« Matt lachte hohl. »Die Theorie kenne ich natürlich, aber sie hatte keinen Bezug zur Realität. Es war so extrem. So animalisch . Und ich dachte, wenn elfisch sein das bedeutet, dann will ich nicht dazugehören.«
»Und hast die Augen davor verschlossen«, ergänzte Sam.
»Ich hielt Faith für ein Menschenwesen, aber dann sah ich …«
»Ich kann ja verstehen, dass du deswegen ausgerastet bist, aber …«
»Du hast keine Ahnung, wie erleichtert ich war, als es hieß, dass die Tore verschlossen sind – Ende der Geschichte. Für alle das Beste. Das half und sorgte dafür, dass die Verwandlungen ausblieben … aber wenn sie jetzt wieder offen sind, was wird dann aus uns werden?«
Sam zögerte. »Ich weiß es nicht. Mit dir ist jedenfalls alles in Ordnung. Du kannst lernen, es zu kontrollieren.«
»Ich dachte, das hätte ich.«
»Nein. Du hast es unterdrückt. Das geht nie gut.«
»Aber dir passiert das doch nicht, oder?«
»Doch, es passiert.«
»Aber nur ein Schimmer unter deiner Haut. Du wirst nicht zu einer Bestie. Warum verwandelst du dich nicht?«
Achselzuckend erwiderte Sam: »Vielleicht weil ich keine Identitätskrise habe.«
Matthews Lachen ging in konvulsivisches Schluchzen über. »Es ist noch nicht lang her, da hätte ich mir eher die eigene Kehle aufgeschlitzt, als dich das zu fragen«, sagte er mit belegter Stimme, »aber Sam, würdest du mir bitte helfen?«
Sapphire schaute aus einem Hotelfenster hinaus in den Schnee, der im Schein der Straßenlaternen wirbelte. Eine weiche weiße Schicht schluckte die Geräusche der Stadt. Gestrandete Fahrzeuge verstopften die Straßen. Sie und Lawrence waren hier wie in einem Kokon eingeschlossen.
Um sich zu beschäftigen, hatten sie sich geliebt. Lawrence war nicht abweisend und passiv wie Jon, sondern geschickt und athletisch. Solange sie die Augen schloss und vorgab, ihn nicht wahrzunehmen, war er ein wunderbarer Liebhaber.
Danach stieg sie aus dem Bett, um sich ans Fenster zu setzen und Lawrence seinen Gedanken zu überlassen. Sein strenges Gesicht, die Augen, die mit einem fast schon psychotischen Glitzern in die Ferne schauten – inzwischen hasste sie ihn fast. Und doch konnte die Nähe zu einem solchen Mann zu einer merkwürdigen Sucht werden. Ihm so nah, doch ohne das berühren zu können, was in ihm steckte. Würde man im Bewusstsein, gleich sterben zu müssen, als Letztes dieses gemeißelte emotionslose Gesicht sehen – es wäre entsetzlich. Dieser Gedanke ließ sie erschaudern.
Der Schnee wirkte wie ein Katalysator. Keine Situation ließ sich auf ewig ertragen. Sie spürte, dass es im Kosmos zu Veränderungen wie bei einem Eisgang kam.
Verändern würde Lawrence sich nie. Er würde sie benutzen, solange sie dies zuließ. Sie überlegte: Soll ich meine Mission vergessen und die glatt polierte, untätige Ehefrau bleiben, die er haben möchte, die sich um sein Leben und um seine
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