Vaethyr: Die andere Welt
jung, etwa fünfzehn, und Liliana, seine Großmutter, alterslos. Sie hatten eine schmale Schlucht entdeckt und erforschten das Ufer eines Flusses, der klar und kalt aus den Bergen kam. Mit ihrem langgliedrigen athletischen Körper schritt Liliana voran, das Haar silberweiß wie der Nebel, der um sie herum aufstieg. Es gebe auf Vaeth Orte, die sich mit den Schattenreichen überschnitten, erklärte sie ihm, und so fest ineinander verzahnt seien, dass selbst Menschen sich hierhin verirren könnten, ohne es zu merken, und dies sei so ein Ort. So schwer fassbar, dass er auf keiner Karte verzeichnet sei.
Sie zeigte ihm die Welt, lehrte ihn, solch verborgene Orte aufzuspüren. Dieses Tal zog ihn sofort in seinen Bann. Baumstämme lagen als wirrer Haufen übereinander, behangen von Bromeliengewächsen und Orchideen. Lawrence sog die von Fäulnis gesättigte Luft ein, lauschte dem Echo der Vogelrufe und Affenschreie. Ein winziger violetter Kolibri schwirrte vorbei. Tukane saßen beobachtend auf den Ästen. Wohin er auch blickte, sah er Juwelen, türkisfarbene Schmetterlinge, hellgrüne Grillen, winzige Pfeilgiftfrösche.
Der Beutel mit den Steinen, die er auf ihrer Wanderung gesammelt hatte, schlug gegen seinen Oberschenkel. Schon als Junge liebte er Mineralien und genoss die Einsamkeit, wenn er sie schnitt und polierte.
Die Sturzflut kam so unvermittelt, dass selbst seine Elfensinne ihn kaum davor zu warnen vermochten. Die Rufe der Vögel verstummten. Schrecklicher Lärm schwoll an und es folgte ein Moment der Wirrnis. Dann bröckelte das Ufer unter Lawrence’ Füßen weg und er wurde von der Flut mitgerissen. Blutfarbenes Wasser schäumte auf und toste in seinen Ohren.
Der schwache Ruf seiner Großmutter drang durch den reißenden Sturzbach zu ihm. »Lawrence! Die Schattenreiche!«
Ein paar Sekunden lang ergriff ihn Panik, als wäre er ein Mensch. Dann kamen die Instinkte zum Tragen. Er hielt den Atem an und gab sich vollständig der ersten Schicht des Elfenreiches anheim.
Um sich herum spürte er, wie die Welt sich veränderte. Der Strom wurde ruhig und erlaubte es ihm, seinen Kopf daraus zu befreien. Er hielt sich an einem flachen Felsen in der Mitte des Flusses fest, blieb einen Augenblick keuchend daran hängen und zog sich dann aus dem Wasser.
Der Strom hatte die Farbe der Mitternacht angenommen. Kühler und blauer war die Welt. Er konnte Sterne so hell wie Laternen leuchten sehen. Das Ufer war zu weit weg, um mit einem Sprung hinüberzusetzen, aber Liliana war da und hielt ihm einen von Kletterpflanzen umwundenen Ast hin. Der Ast glänzte silbern wie ein Blitz. Lawrence packte ihn und sprang. Dann stand er schwankend und keuchend auf festem Boden.
»Vergiss das nie«, sagte Liliana, »das ist uns immer eigen. Wir können die Wirklichkeit umkehren, wie das die Bewohner der Oberfläche nicht können. Das kann unser Leben retten. Uns die Gefahr vergessen lassen.«
Dann rief sie die Namen der örtlichen Elementargeister und sagte gut gelaunt: »Weichet! Lasst uns in Frieden ziehen.«
Das blieb Lawrence’ lebhaftestes Bild, das er von seiner Großmutter hatte: wie sie hager und mit silbernem Haar, einer Zauberin aus dem Märchen gleich, die Elemente an die Kandare nahm, während hinter ihr der Wald dampfte. Bei älteren Elfenwesen kam es vor, dass sie gestreckt und durchsichtig wirkten. Dann pflegten sie sich von der Oberflächenwelt abzukehren und sich noch tiefer in die Spirale zu versenken, bis ihre Füße sie von selbst dorthin führten.
Liliana war über zahllose Dekaden Torhüterin gewesen und Lawrence beerbte sie darin. Er trug, wie sie es nannte, das Lych-Licht in sich. Lawrence bekam jedes Mal Angst, wenn er diese Durchsichtigkeit an ihr wahrnahm, denn er wusste, dass sie bald weggehen würde – ihn womöglich sogar allein hier zurücklassen würde, wenn der Ruf zu stark wurde. Er war noch nicht dazu bereit, Torhüter zu werden.
Während die feste Welt um ihn herum wieder Kontur annahm, sah er, dass entlang der gesamten Schlucht das Ufer weggebrochen war und frische rote Erde freigelegt hatte. Die Flut ließ langsam nach. Kleine Felsbrocken aus den Bergen wirbelten im Wasser herum. Lawrence sah den Glanz reinen, klaren Glases. Ein Quarzknoten, nahm er an, herausgerissen aus dem Berginneren und hierher vor seine Füße gespült. Er bückte sich und pflückte ihn aus der Strömung.
Doch es war kein Quarz. Bei seiner Berührung veränderte sich seine Farbe in helles Violett und in seinem Inneren
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