Vaethyr: Die andere Welt
Detonation ihnen fast das Trommelfell zerriss. Flammen züngelten in die Nacht. Sam drängte sie Schritt für Schritt über den von Farnen gesäumten Pfad. Gemeinsam mit Rosie stützte er seinen Vater. Noch immer lag der Druck des schwarz leuchtenden Bildes von Brawth schmerzhaft auf ihren Gesichtern. Rosies Augen tränten und sie war geschwächt von den Schmerzen und von der Angst, aber angesichts der dringenden Aufgabe, Lawrence zu helfen, trat dies alles in den Hintergrund.
Selbst im Tal peitschte der Sturm fürchterlich und zerrte an ihnen, als sie sich durch eine Lücke in der Hecke von Oakholme zwängten. Zweige und Blätter prasselten wie Hagelschloßen auf sie hernieder. Im Spiralgarten jedoch regte sich kein Lüftchen.
Mit leisen Knirschgeräuschen auf dem Kies führten sie Lawrence über den Spiralpfad zum Ei in dessen Mitte. Sobald er dort war, wurde er ruhiger. Er stand aufrecht und Rosie konnte zusehen, wie der Schrecken von ihm abfiel. Ihr Kopfschmerz ließ nach und sie vergaß sogar die Angst.
Lawrence setzte sich auf das Ei aus Stein im Zentrum und stieß einen langen tiefen Seufzer aus. Am Himmel über ihnen wüteten Gabelblitze. »Danke, Rosie«, sagte er. »Das ist der Ort, den ich brauche. Du musst es gewusst haben.«
»Dem war nicht so.« Sie lachte beklommen. »Jedenfalls nicht bewusst.«
»Und doch ist das der Grund, weshalb du es gebaut hast, selbst wenn es dir nicht bewusst war. Ich danke dir. Ich bedauere es sehr, Sam, dass du mich so erleben musstest. Ich schäme mich so.«
»Nicht doch, Dad. Du brauchst dich nicht zu schämen«, beruhigte Sam ihn mit brüchiger Stimme. »Das Verbot, vom Podest herunterzufallen, hast du allein ausgesprochen.«
»Ihr könnt mich jetzt allein lassen. Ich werde hier warten.«
»Kommt nicht infrage«, widersprach Sam. Er kniete sich zu seines Vaters Füßen. »Wir werden bei dir bleiben.«
Lawrence lächelte und blickte nach oben. »Hier bin ich und stehe über dem Abyssus.«
Ein staubiges Rot färbte sie Szenerie und der Sturm kreiste unheilvoll um sein stilles Auge. Sie spürte, wie der unsichtbare Riese sich unaufhaltsam brüllend auf sie zubewegte. Rosie stand aufrecht. Sam griff nach oben und fasste ihre Hand, die auf seiner Schulter lag.
»Was ist er denn«, fragte Sam, »dieser Schatten, Brawth?«
»Er ist meine Fulgia «, antwortete Lawrence. »Er ist ein Teil von mir. Wenn Elfenwesen von inneren Dämonen heimgesucht werden, manifestieren diese sich im kosmischen Maßstab.«
»Bist du dir ganz sicher, dass das alles von dir kommt?«
Lawrence’ hohe, blasse Stirn furchte sich. »Sicher können wir uns nie sein, aber ich gehe von dieser Theorie aus. Sollte mehr dahinterstecken, ist es dennoch mein Fehler. Meine Fulgia hat Brawth angegriffen oder in sich aufgesogen oder geweckt oder ist dazu geworden … das Ergebnis ist dasselbe.«
»Also kannst nur du ihn kontrollieren?«
Sein Vater lächelte matt. »Kontrollieren kann ich ihn nicht. Das ist es ja. Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass es nichts von mir Abgetrenntes ist, und das ist auch der Grund, weshalb es mich und mein Blut verfolgt.«
»Erklär mir das«, forderte Sam ihn auf. »Rasch, solange wir alle noch leben.«
»Als ich Sibeyla verließ, wurde ein Teil von mir herausgerissen und in der Anderswelt als Geisel festgehalten.« Lawrence’ Worte kamen leise und abgehackt. »Es ist Albins Rache. Das soll nicht heißen, dass ich ihn verantwortlich mache, ich kann nur mir selbst die Schuld geben, weil ich Jahre damit zugebracht habe, davor wegzulaufen.«
»Rache wofür, Dad?« Er griff nach der Hand seines Vaters. Das war eine Geste, die Rosie in dieser Familie noch nie gesehen hatte.
»Albin verübelte es mir, dass Lilianas Macht ihn überging und direkt auf mich übersprang. Er vertrat die Ansicht, dass die Aelyr den Vaethyr überlegen sind und wir uns degradieren, indem wir die Spirale verlassen. Er wollte, dass ich in Sibeyla blieb, aber ich folgte Liliana auf die Erde, und das hat er mir nie verziehen. Bevor ich ging, zeigte er mir ein Stück Elfenstein, mit Spiralen und verbindlichen Symbolen versehen. Er erklärte mir, dass meine Seelenessenz darin gefangen sei und für immer in der Anderswelt verbleiben werde. Und es stimmt: Ich habe kein Herz, keine Seele, keine Mitte, oder? Ich habe mich nie so um meine Familie gekümmert, wie ich das hätte tun sollen. Ich konnte nicht lieben. Aber die Essenz ist nicht die Fulgia . Die Fulgia ist das Schatten-Selbst. Die
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