Vaethyr: Die andere Welt
anders sieht, ist es sein Schaden.«
Er grinste und war für einen kurzen Moment wieder ganz der Alte. »Danke. Ich wette, du hast Mum bereits verziehen, habe ich recht?«
»So gut wie«, sagte Rosie. »Warum?«
»Weil dir das ähnlich sieht. Du bist verdammt noch mal ein Engel.«
»Kannst du ihr denn verzeihen?«
»Ich weiß nicht. Sie und Dad haben mich mein Leben in dem Glauben führen lassen, ihr Kind zu sein, jetzt finde ich heraus, dass ich jemand ganz anderer bin.« So hatte sie ihn noch nie erlebt: verzweifelt, verloren und plötzlich älter. »Was verdammt noch mal soll ich jetzt empfinden oder tun? Was sage ich heute Abend zu Dad?«
»Um Dad brauchst du dir keine Gedanken zu machen, der kommt damit klar«, sagte sie entschieden.
»Er vielleicht, aber ich?« Jessica durchschritt die vertrauten Räume von Oakholme und dabei ging ihr all das durch den Kopf, was sie Rosie erzählt hatte oder auch nicht. Im Schlafzimmer öffnete sie eine Schatulle mit ihrem Albinit-Armband und ließ die funkelnden Edelsteine durch ihre Hand gleiten. Dieses Armband hatte sie nach Lucas’ Geburt von Lawrence bekommen.
Auberon wusste davon. Er hatte von ihr nie verlangt, es zurückzugeben, und sie hatte im Gegenzug darauf verzichtet, es zu tragen. Es war kein Geschenk der Zuneigung – das entsprach nicht Lawrence’ Stil –, sondern eine Art von respektvollem Abschied. Typisch für Lawrence: keine Worte, nur kalte Juwelen – aber er erkannte Lucas damit wenigstens an.
Musik war Jess’ Lebenselixier gewesen, die Bühne ihr Zuhause, ihr Leben die Leidenschaft für ihre Lieder. Das alles vermisste sie, als sie mit zwei kleinen Kindern ans Haus gebunden war. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihr wahres Ich verloren zu haben. Was nicht daran lag, dass Auberon sich nicht mehr um sie bemühte, ganz im Gegenteil, er liebte sie viel zu sehr und beschützte sie wie ein rohes, in Seidenpapier gewickeltes Ei. Dagegen rebellierte ihr Vogelgeist. Sie wünschte sich nicht jemanden, der sie beschützte, sondern jemanden, der sie bewunderte und mit roher Lust begehrte.
Es geschah während einer frostigen Phase in Lawrence’ und Virginias wechselhafter Beziehung … Während eines elysischen Rituals zur Feier der Frühlingsfülle mit Tanz und zu viel Honigwein … Jessica hatte zufällig mit Lawrence getanzt und der Tanz hatte sie beide in heiße Erregung versetzt, was sich keiner von beiden zuzugeben traute.
Es kam oft vor, dass Paare im Wald verschwanden, nicht notwendigerweise mit ihren üblichen Partnern. Auberon jedoch verspürte diesen Drang nicht so stark, er blieb lieber im Zentrum des Geschehens. In jener Nacht jedoch rebellierte Jessica gegen sein Anstandsgefühl. Anstatt an seine Seite zurückzukehren, streifte sie durchs Waldgebiet und begegnete Lawrence dort wieder. Er stand allein vor einem Baum, als hätte er auf sie gewartet.
Zu behaupten, sie sei verhext gewesen, wäre eine lahme Erklärung. Betrunken war sie allerdings. Keine Worte, nur ein Blick rücksichtsloser Geilheit, der sie einte. Und dann ab in die Büsche mit ihrer torfigen Erde, dem duftenden Farn und dem frischen Gras, Wolken, die über die Sterne segelten, zitternde Äste und durch die Nacht jagende Eulen, während sie einander verschlangen.
Es war unglaublich gewesen.
Eine Sache hatte sie immer für sich behalten, weil Auberon auch nie danach gefragt hatte – obwohl er es offenbar wusste: dass es nämlich nicht bei diesem einen Mal geblieben war. Mein Gott, es waren viele Male in diesem Sommer. Die Überschneidung mit Auberons langer Geschäftsreise hatte alles erleichtert. Es war so aufregend, zu erleben, wie Lawrence’ steinkaltes Äußeres für sie auftaute. Wie im Rausch hatte sie sich ihm völlig hingegeben und auch noch das letzte Tor in ihr geöffnet, sodass eine Empfängnis unvermeidbar war, als wollte sie ihn für immer in sich behalten. Die Erinnerung daran trieb ihr noch immer die Schamesröte ins Gesicht.
Aber es war pure Lust. Zärtlichkeit war Lawrence fremd. Am Ende erschöpfte die Lust sich an ihrer arktischen Kälte. Und sie begriff schließlich, was sie wirklich wollte, und Auberon hatte geduldig auf ihre Rückkehr gewartet.
Noch immer stellte sie sich die Frage, wie sie so wahnsinnig gewesen sein konnte, Luc zu empfangen – und Lawrence dazu zu bringen, mitzuspielen, denn das hatte er getan. Eitelkeit? Sieh doch, wie schön wir sind, sollten wir nicht ein Kind haben? Oder waren es Elfenmächte, die im Dunkeln wirkten und deren
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